Petra Olschowski ist Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Foto: stn

Von wegen verstaubt: „Archive sind wohl so etwas wie die hidden champions unserer reichen Kulturlandschaft“, sagt Kunststaatssekretärin Petra Olschowski (Grüne) den „Stuttgarter Nachrichten“.

Stuttgart - 365 Archive weist Baden-Württemberg aus. Sie gelten wesentlich als das Gedächtnis des Landes. Prägen sie auch die Gegenwart mit? Antworten gibt Petra Olschowski (Grüne), Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst.

Frau Olschowski, Archive erscheinen mitunter als vergessene Spezies. Zugleich ist gerade Baden-Württemberg stolz auf eine Vielzahl allein schon unter Ihrer Ägide stehender Einrichtungen. Was macht Archive so wertvoll?

Den Archiven kommt oftmals nicht die Aufmerksamkeit zu, die ihnen gebührt. Sie sind wohl so etwas wie die hidden champions unserer reichen Kulturlandschaft. Als Bewahrer des Gedächtnisses der Gesellschaft gehören sie neben Museen und Bibliotheken zu den wesentlichen Kulturgut-bewahrenden Einrichtungen im Land.

Einzigartiges Material

Was heißt das konkret?

Im Gegensatz zu Büchern in Bibliotheken ist Archivgut einzigartiges Material; wenn es verloren geht, gibt es keinen Ersatz. Daher haben Archivalien so einen besonderen, ganz eigenen Wert für unsere Gesellschaft und Kultur. Archive mit ihren gespeicherten Informationen sind für uns alle so etwas wie ein Navi durch die Geschichte. Für das Land selbst hat dabei das Landesarchiv die größte Bedeutung. Mit seinen über das ganze Land verteilten Standorten in Stuttgart, Ludwigsburg, Kornwestheim, Karlsruhe, Freiburg, Sigmaringen, Wertheim und Neuenstein sichert es auch das Gedächtnis in den Regionen.

Archivwelt ist vielfältig

Dort gibt es aber auch eigene Einrichtungen.

Richtig. So vielfältig die Gesellschaft ist, so breit ist auch die Archivwelt. Zu nennen sind neben dem Landesarchiv insbesondere die Stadt-, Kreis- und Gemeindearchive, die Archive der Evangelischen Landeskirchen und die katholischen Diözesanarchive sowie in Heidelberg das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland. Einen wichtigen Beitrag zur historischen Überlieferung des Landes leisten zudem zahlreiche private Unternehmens- und Medienarchive sowie Adelsarchive. Ein besonderes Augenmerk legt das Ministerium auch auf die Archive, mit denen gesellschaftliche Institutionen und bürgerschaftliches Engagement Erinnerung sichern.

Zum Beispiel?

Ich denke da etwa an das Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg in Stuttgart-Hohenheim, das Archiv Soziale Bewegungen in Freiburg, das Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte in Tübingen, aber auch an das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen. In allen diesen Fällen unterstützt das Land die Archivarbeit.

„Archive sind unverzichtbar“

Spezifikation kann Archive unverzichtbar machen. Aber ist sie nicht zugleich ein Hindernis für die Weiterentwicklung?

Archive sind in der Tat für eine Gesellschaft unverzichtbar. Mit den sicher aufbewahrten Unterlagen und Informationen können Entwicklungen und Verantwortlichkeiten rückblickend transparent gemacht werden. Damit leisten Archive einen wesentlichen Beitrag für die Erinnerungskultur und zur politischen Kultur unserer Demokratie. Wer die Vergangenheit nicht kennt, dem fehlen auch Kriterien für die Gestaltung unserer Zukunft.

Und die Spezialisierung?

.. . ist kein Hindernis für die Weiterentwicklung, sondern eher Auftrag und Verpflichtung, auch in der digitalen Welt beziehungsweise in der modernen Informationsgesellschaft die Archive für die Zukunft weiterzuentwickeln. Und dies tut das Land als Träger auch im Hinblick auf das Landesarchiv. Über die Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg und andere Fördermittel und Zuschüsse werden aber auch andere Archive im Land gefördert.

Archive sollen sich öffnen

Anders als vielfach unterstellt, sind die meisten Archive – wenn auch auf Anfrage – zugänglich. Sehen Sie hier eine Chance, Archive neu zu denken?

Sie sprechen da einen wichtigen Punkt an. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 waren die Archive die ersten Kultureinrichtungen im Land, die wieder öffnen konnten. Interessenten gab es viele. Zum Beispiel mussten Studierende Dokumente für ihre Prüfungsarbeiten einsehen oder Menschen wollten Klarheit über ihre eigene Vergangenheit, teilweise auch um Traumata bewältigen zu können.

Wie weit kann eine Öffnung gehen?

Archive und speziell das Landesarchiv wollen wir in zweierlei Hinsicht weiterentwickeln: Zum einen soll unsere Geschichte in den Quellen online greifbar werden – über die 15 Millionen Digitalisate hinaus, die schon frei zugänglich im Netz stehen. Nur so können die Archivschätze über Raum- und Zeitgrenzen hinweg genutzt werden und Wirkung entfalten. Zum anderen sind die Archive als Orte des Wissens, des Lernens und des Austauschs für die Zivilgesellschaft, als historische Zentren neu zu denken. Geschichte geht alle an – daher sollten die Archive auch attraktive Angebote für alle entwickeln.

LEO-BW als digitales Schaufenster

Welche Breite streben Sie bei alldem an? Wäre nicht gerade für Archive die Digitalisierung eine Chance Themenfelder spartenübergreifend leichter, schneller, aber auch mehrdimensionaler zu erschließen?

Diesen Weg gehen das Land und speziell das Landesarchiv bereits. Zum einen erfolgt eine systematische Digitalisierung von wichtigen Quellen, die das Ministerium unterstützt. Zum anderen betreibt das Landesarchiv das landeskundliche Internetportal LEO-BW. Hier finden die Bürgerinnen und Bürger digital aufbereitete Informationen, Karten und Dokumente aus aktuell 40 Museen, Bibliotheken und Archiven aus dem ganzen Land – ein einzigartiges digitales Schaufenster unserer reichen Kulturlandschaft.

Wirken sie über das Land hinaus?

Ja, das Landesarchiv ist Vorreiter in Deutschland für die spartenübergreifende Vernetzung von Archiven, Bibliotheken und Museen und der Erschließungsinformationen der dort vorhandenen Dokumente und Objekte. Es hat die Deutsche Digitale Bibliothek mitinitiiert und ist federführender Initiator und Koordinator des zugehörigen Archivportals-Deutschland.

Digitalangebote als „Türöffner“

Viel läuft über Digitalisierung. Könnte dies nicht zum Bumerang werden – und feste Einrichtungen als überflüssig erscheinen lassen?

Nein, aus zwei Gründen: Wir werden auf absehbare Zeit nicht zuletzt aus Kostengründen keine komplette Digitalisierung des gesamten Archivguts erreichen können. Die Digitalisate im Netz wirken eher wie ein Türöffner, weil die Informationen neugierig machen nach mehr. Da besucht dann eine Klasse ein Archiv für ein Projekt, jemand recherchiert seine eigene Familiengeschichte mit der Einsicht in die Originale in einem Lesesaal oder es melden sich Initiativen, die Aspekte unserer Geschichte wie beispielsweise den Kolonialismus aufarbeiten.

Und zum zweiten?

Ist das Original, das „Authentikum“ wie es im Archiv heißt, das entscheidende Stück mit Beweiswert. Sehr zutreffend wirbt das Landesarchiv mit dem Motto: „Wirkt zuverlässig gegen alternative Fakten.“

Brisantes zur Heimerziehung

Die Aufarbeitung von Archivmaterial hat in den vergangenen Jahren vielfach den Blick gerade auf historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts verändert. Ist Archivarbeit in diesem Sinn auch eine Möglichkeit, unterstellte Wirklichkeit zu überprüfen?

Ja. Lassen sie mich das an einem Beispiel erläutern. Seit 2012 wird der Bereich der Heimerziehung von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Die ehemaligen Heimkinder fragen nach Tatsachen, Verantwortlichkeiten und nach Traditionen aus der NS-Zeit, die nach 1945 weiterwirkten. Ohne die Recherche nach Dokumenten und Informationen in den Archiven wären wir alle hier nicht weitergekommen. Also ein ganz klares Ja.

Mehr Partnerschaften mit Schulen

Wirkt dieses Ja auch in den Bildungsbereich?

Archivgut ist wie gesagt ein wichtiger Prüfstein für die Glaubwürdigkeit von Berichten und Erzählungen. Hier kann auch die Bildungsarbeit der Archive ansetzen, die als „außerschulische Lernorte“ ihren festen Platz haben. Diese Rolle möchte das Land mit Bildungspartnerschaften zwischen Archiven und beispielsweise Schulen noch intensivieren.

Und wer überprüft dann – Stichwort Fälschungen bzw. bewusst erstellte Dokumente – die Dokumente?

Da sind wir wieder beim Wert der Spezialisten; die vermeintlichen Hitler-Tagebücher haben die Kolleginnen und Kollegen des Bundesarchivs als Fälschung entlarvt. Zu mittelalterlichen Fälschungen hat das Landesarchiv eine Präsentation erarbeitet. Und 2019 widmete sich die vom Landesarchiv organisierte Karlsruher Tagung für Archivpädagogik unter dem Titel „Fakt oder Fake?“ der Wahrheitsfindung im Archiv.

Archive wirken gegen Fake News

Das ist alles schon eine Weile her ....

Es ist offenkundig, dass gerade in Zeiten von alternativen Fakten und Fake News den Archiven als Hort gesicherter, unverfälschter Dokumente eine wichtigere, ja in meinen Augen zentrale Rolle zukommt. Aus diesem Grund hat das Land auch im vergangenen Jahr seine Dokumentationsstelle Rechtsextremismus beim Generallandesarchiv in Karlsruhe eingerichtet – glaubwürdige Quellen für ein wichtiges Thema.

Historische Dokumente haben seit Jahrhunderten auch einen Markt. Wie beobachtet das Land, was wo und wie gehandelt wird? Stehen hier eigene Gelder zur Verfügung, um gegebenenfalls aktiv werden zu können?

Historische Dokumente sind dann besonders aussagekräftig, wenn sie in ihrem Kontext untersucht werden können. Daher schauen Archive auf dem Markt vor allem nach den Materialien, die zu ihren Quellen passen, wie Nachlässe von Personen, die im oder für das Land gewirkt haben. Manchmal tauchen auf Auktionen sogar Dokumente auf, die in ein Archiv gehören, aber zum Beispiel in den Kriegswirren 1945 entwendet worden sind. Die wahre Investition in solchen Fällen sieht man erst, wenn man bedenkt, dass so ein Dokument in Katalogen zu verzeichnen, zu digitalisieren und über Jahrhunderte zu erhalten ist.

Das Ziel: offene Wissenseinrichtungen

Ein Letztes: Wo und wie sehen Sie Einrichtungen wie das Staatsarchiv in zehn Jahren: Weitgehend geschützt für sich oder gar als offene Begegnungsräume?

Als lebendige Begegnungs- und Forschungsorte, in denen sich unterschiedlichste Gruppen der Zivilgesellschaft anhand des historischen Materials über Geschichte, Traditionen und Zukunftspläne austauschen – nach dem von Odo Marquard gesetzten Motto „Zukunft braucht Herkunft“. Das Archiv der Zukunft ist kein geschützter Elfenbeinturm, sondern eine für alle Bürgerinnen und Bürger offene Wissens- und Kultureinrichtung. Tatsächlich ist das eine der großen Herausforderungen für die nächsten Jahre: der Öffentlichkeit die gesellschaftliche Relevanz der Archive stärker als bisher zu vermitteln.

Archive in Baden-Württemberg

Zentrale Anlaufstelle ist das Landesarchiv. Wichtige Archivbereiche in Baden-Württemberg sind zudem Kirchliche Archive (10), Herrschafts- und Familienarchive (20), Wirtschaftsarchive (36), Archive der Parlamente, politischen Parteien, Stiftungen und Verbände (2), Medienarchive (16), Archive der Hochschulen sowie wissenschaftlicher Institutionen (28). Unter dem Titel „Sonstige Archive“ werden neun Einrichtungen geführt.