Der Christdemokrat Jean-Claude Juncker ist Favorit auf den Chefposten in Brüssel. Foto: dpa

Die EU-Kommission soll einen neuen Präsidenten bekommen. Aber längst geht es in Brüssel nicht mehr nur um die Besetzung des wohl wichtigsten Amtes, das die EU zu vergeben hat. Die Zukunft der Gemeinschaft steht auf dem Spiel.

Brüssel - Als Jean-Claude Juncker vor einigen Tagen aus dem Fenster seines Hauses schaute, kam er mächtig ins Staunen. Selbst in den Bäumen des Vorgartens saßen britische Fotografen, um jenen Mann abzulichten, der auf der Insel zu einem Feindbild aufgebaut worden ist. Denn der 59-jährige frühere luxemburgische Ministerpräsident und Chef der Euro-Gruppe hat einen Feind, der mittlerweile mehr als nur ein politischer Gegner ist: David Cameron, den britischen Premierminister.

Die britische Zeitung „Guardian“ warf Cameron vor, einen „Dschihad“ – einen Heiligen Krieg – gegen Juncker entfacht zu haben. Der Sieger der Europawahl und Spitzenkandidat der Konservativen sei ein „Gesicht der 80er Jahre“, hatte Cameron beim EU-Gipfeltreffen Ende Mai in Brüssel getobt. Mit so jemandem könne man doch die Gemeinschaft nicht reformieren. Denn genau das ist es, was der Brite will: Die EU soll anders werden, vor allem weniger bevormundend, weniger regulierend. Hauptsache weniger.

Doch Cameron hat die Lage unmittelbar nach der Europawahl offenbar unterschätzt. Nicht nur sozialdemokratische Staats- und Regierungschefs wie der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann positionieren sich plötzlich klar für den Luxemburger aus dem anderen Lager. Sogar der Spitzenkandidat der Linken, der griechische Syriza-Chef Alexis Tsipras, tritt für die Wahl des Luxemburgers ein, weil er die Macht des EU-Gipfels aushebeln will.

Das gilt auch für den einstigen Gegner Junckers im Wahlkampf, den bisherigen Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Der hatte in dieser Woche unmissverständlich gesagt: „Das ist nicht die Zeit für Parteipolitik. Der Wahlkampf ist beendet.“

Das stimmt. Und doch wieder nicht. Denn der Machtkampf um Brüsseler Posten ist erst jetzt so richtig entbrannt. „Wir schreiben in diesen Tagen Verfassungsgeschichte“, sagte der außenpolitische Experte der konservativen EVP-Fraktion und europapolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Elmar Brok. Dessen Ansicht teilen viele. Die 751 Volksvertreter proben den Aufstand, weil sie im schwammig formulierten Lissabonner Vertrag ihr Recht auf das letzte Wort in Gefahr sehen. Ihnen gegenüber stehen die 28 Staats- und Regierungschefs, denen der Vertrag von 2009 das Vorschlagsrecht einräumt.

Schulz wirbt massiv für Juncker - zum eigenen Nutzen

Was aber nützt das, wenn das Parlament nicht wählen will, wen die Chefs vorschlagen? Dabei geht es ja nicht nur um Juncker, sondern auch um Schulz. Wenn in wenigen Tagen die Sozialdemokraten ihren Fraktionschef wählen, dürfte Schulz auf jenen Posten zurückkehren, den er aufgegeben hatte, als er vor zweieinhalb Jahren zum Parlamentspräsidenten gewählt wurde. Doch dabei handelt es sich wohl nur um eine „Parkposition“, wie es ein Genosse süffisant formulierte.

Schulz will mehr, die Sozialdemokraten auch, inzwischen wohl auch die Kanzlerin, die bei SPD-Chef Sigmar Gabriel im Wort steht: Schulz könnte als deutscher EU-Kommissar und Vizepräsident in der nächsten Kommission ein besonders starkes Ressort übernehmen, wird kolportiert. Eine Horrormeldung für Cameron, der Schulz am liebsten auf allen Posten verhindern würde.

Im Amt des Vizepräsidenten könnte der deutsche Sozialdemokrat weithin ungehindert und mit dem Parlament bestens vernetzt zum Feindbild Nummer eins für den Briten aufsteigen – steht Schulz doch genau für jene Positionen, die Cameron aus dem Zuständigkeitskatalog der EU streichen will: Arbeitsmarkt, Jobbeschaffung, soziale Rechte.

Dass Schulz eine Hausmacht im Plenum hat, steht fest. Deshalb wirbt er so massiv für Juncker, denn damit würde er eine Große Koalition in Europa mit einer stabilen Mehrheit zimmern, die ihm selbst nützt. Sollten die Sozialdemokraten Juncker mitwählen, müssten die Konservativen Schulz ins Amt hieven. Kein Wunder, dass in den Restaurants rund um das Brüsseler Europäische Parlament in diesen Tagen die Hinterzimmer ausgebucht sind.

Da sitzen Christdemokraten mit Liberalen zusammen, Grüne mit Sozialisten. Die Rechten suchen den Kontakt mit EU-Kritikern, und alle buhlen um die noch fraktionslosen Abgeordneten, von denen allein sieben aus Deutschland kommen. „Da wird schon mal wild gefeilscht“, weiß einer, der an vorderster Front steht. „Ich nehme den einen von der Partei, dann kannst du den anderen haben – so funktioniert das.“

Das Reservoir, um das es geht, ist groß. Nach offiziellen Angaben ziehen 50 Mandatsträger aus „neuen Parteien“ ins Plenum ein. Deshalb kann noch niemand genau sagen, ob die Konservativen am Ende wirklich 221 Sitze haben. Oder wie stark die Sozialdemokraten (190) schließlich sein werden. Auf welche Seite schlagen sich beispielsweise die konservativen Reformer aus Großbritannien? Mit wem arbeiten die 53 Grünen zusammen? Nicht einmal die Zukunft der sieben deutschen AfD-Parlamentarier ist geklärt. Obwohl der wiedergewählte Chef der CDU-Abgeordneten, Herbert Reul, eine Zusammenarbeit strikt ablehnt, gibt es sehr wohl Tendenzen, den Euro-Kritikern ein Angebot zu machen, ihnen eine politische Heimat in der konservativen Fraktion anzubieten. „Das wären immerhin sieben Stimmen mehr“, sagt ein Unterhändler aus den Reihen der Unionsparteien.

Thorning-Schmidt wird als Ratspräsidentin gehandelt

Inzwischen hat EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy in die Gespräche eingegriffen. Im Auftrag der Staats- und Regierungschefs soll er vermitteln. Der Belgier gilt als Meister des Kompromisses, allerdings sagt man auch ihm nach, Juncker verhindern zu wollen. Noch drei Wochen hat er Zeit, um die Mehrheiten zu sortieren. Noch ist nicht sicher, ob sich der EU-Gipfel Ende Juni für Juncker ausspricht oder ob Cameron am Ende nicht doch die Kritiker aus Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Ungarn um sich sammeln und eine Sperrminorität – notwendig wären sieben Nein-Stimmen – erreicht. Das will Van Rompuy verhindern, und er hat offenbar schon eine Idee, wie: Die dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt wird als Ratspräsidentin und Nachfolgerin Van Rompuys gehandelt. Damit könnte die dänische Stimme auf die Juncker-Seite wechseln.

Brüssel gleicht in diesen Tagen einem orientalischen Teppich-Basar. Alle machen mit. Sogar jene, wie Reul vor wenigen Tagen süffisant kommentierte, die im Wahlkampf „die Hinterzimmerkungelei“ angeprangert hatten. Erstaunlich wenig ist dagegen von jenen programmatischen Überlegungen zur Zukunft der EU zu hören, mit denen der Gipfel die Phase des Nachdenkens begründet hatte. Auch Cameron beteiligt sich nicht daran, obwohl Juncker in den fünf Thesen, die er für den Wahl eines Wahlsieges schon am 23. April vorgelegt hatte, ausdrücklich die britische Kritik aufnimmt. „Ein Kommissionspräsident wird für einen fairen Deal mit dem Vereinigten Königreich arbeiten“, heißt es da. Außer über den Binnenmarkt und die vier Grundfreiheiten könne man über alles reden.

Das war als Angebot an Cameron und andere Gegner des einstigen Euro-Gruppen-Chefs gedacht, der sich mit seiner Forderung nach Euro-Bonds auch den Zorn der Kanzlerin zugezogen hatte. Dass dieses Programm Wellen geschlagen hat, kann man nicht sagen. Auch Angela Merkel setzte sich zwischen alle Stühle, als sie Juncker zunächst für austauschbar erklärte, dann aber wieder zurückrudern musste.

Inzwischen werbe sie intensiv für seine Wahl, sagen Diplomaten. Um den Londoner Premier gleichzeitig bei der Stange zu halten, schimpft Merkel zugleich auf all jene, die angesichts des Widerstands von der Insel bereit sind, Großbritannien fallenzulassen. „Ich halte es, grob gesagt, für fahrlässig, ja eigentlich inakzeptabel, mit welcher Lockerheit manche darüber sprechen, dass es doch gleichgültig ist, ob Großbritannien nun zustimmt oder nicht, mehr noch, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt oder nicht“, betonte sie.

Längst geht es in Brüssel nicht mehr nur um die Besetzung des wohl wichtigsten Amtes, das die EU zu vergeben hat. Die Zukunft der EU steht auf dem Spiel, ihre künftige Gestalt auch. Vor allem aber geht es um die Frage, wer in den nächsten fünf Jahren wie mächtig sein wird.

Das EU-Parlament hat sich jedenfalls aufgemacht, den Staats- und Regierungschefs die Stirn zu bieten. Wenn Mitte Juli in Straßburg wieder getagt wird, soll Juncker gewählt werden, heißt es quer durch die großen Fraktionen. Und es klingt ein wenig so, als wolle man ergänzen: Egal, was und wen die Chefs auch vorschlagen, eines sei klar: Wir sind das Volk.