Bei vielen Misophonie-Patienten ist der Leidensdruck so groß, dass sie sich immer weiter abschotten – obwohl sie eigentlich gesellig sind. Foto: Adobe Stock/Jonas Glaubitz

Kauen, Schmatzen, Rascheln: Die meisten Menschen nehmen so etwas kaum wahr. Wer unter Misophonie leidet, empfindet bestimmte Alltagsgeräusche hingegen als Folter. Die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang.

Irgendwann, in der fünften oder sechsten Klasse, fing es an. „Ich konnte plötzlich nicht mehr mit meinem Bruder in einem Zimmer schlafen“, erinnert sich Lina Meier (Name geändert). „Seine Schlafgeräusche haben mich so gestört, dass ich die ganze Nacht wach lag.“ Bei Schullagern war es noch schlimmer, erzählt die 19-Jährige, die in der Nähe von Basel lebt. „Mit anderen in einem Raum zu sein und sie atmen zu hören, hat mich extrem gestresst. Irgendwann habe ich überall Ohropax mit hingenommen.“

 

Lange Zeit wusste Lina nicht, worunter sie leidet. „Ich fühlte mich so alleine, weil mich niemand verstehen konnte“, erzählt die junge Frau. So auch beim alltäglichen Abendessen. „Das Schmatzen meines Bruders hat große Wut in mir ausgelöst. Meine Mutter hat ihn in Schutz genommen, weil er in ihren Augen nichts falsch macht. Das hat das Familienleben richtig belastet.“

Eine Kinder- und Jugendpsychologin stellte schließlich die Diagnose: Misophonie. Der Begriff setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern „misos“ (Hass) und „phone“ (Geräusch).

Hass auf Geräusche

Die Forschung zum Hass auf bestimmte Geräusche steht ganz am Anfang. Groß angelegte vergleichende Studien fehlen, ebenso ein einheitlicher Diagnose-Katalog. Gemeinsam haben Betroffene, dass sie eine unkontrollierte Wut entwickeln, sobald sie ein bestimmtes Geräusch hören.

Eine Studie der University of South Florida aus dem Jahr 2014 legt nahe, dass mehr Personen davon betroffen sein könnten, als man zunächst vermutet. Von 483 befragten Studierenden gaben rund 20 Prozent an, „klinisch signifikante Symptome“ aufzuweisen. Dass dies keine Einbildung ist, konnte ein Team der Universität Amsterdam im Jahr 2019 mithilfe einer Magnetresonanz-Tomografie (MRT) nachweisen.

Sobald bestimmte Reizgeräusche erklangen, zeigten Hirnareale, die für Emotionen und Hörverständnis zuständig sind, eine erhöhte Aktivität. Auch eine Erhöhung der Herzfrequenz konnte festgestellt werden, schreiben die Forschenden in der Fachzeitschrift „Scientific Reports“. Mit 23 Patienten und 21 gesunden Personen handelte es sich aber um eine sehr kleine, nicht repräsentative Testgruppe.

Unangenehm: Menschen

Als besonders unangenehm empfinden Misophonie-Patienten offenbar menschliche Geräuschquellen: Kauen, Schlucken, Schmatzen, Atmen, Räuspern, Husten. Doch auch andere Töne – raschelnde Popcorn-Tüten, ein tropfender Wasserhahn, das Ticken einer Uhr – können starke Reaktionen hervorrufen. Wann spricht man von einer Krankheit? Beim schrillen Kratzen von Kreide auf einer Schultafel oder beim lauten Schreien eines Babys zuckt wohl jeder zusammen. Aber was, wenn man sich über das Hochziehen von Nasensekret ärgert? Ist das schon Misophonie?

„Es kommt auf den Leidensdruck an“, sagt Anne Möllmann. Die Psychotherapeutin arbeitet an der Universität Bielefeld und ist eine der wenigen Expertinnen für Misophonie im deutschsprachigen Raum. Sie berichtet von Patientinnen und Patienten, die sich für ihre Wut schämen, aber sie nicht unterdrücken können.

„Mit Willenskraft gegenzuhalten, ist da einfach nicht möglich“, sagt die Expertin. In Beruf und Schule könne es immer wieder zu solchen Situationen kommen, vor allem aber im häuslichen Umfeld. Bei vielen sei der Leidensdruck so groß, dass sie sich immer weiter abschotten – obwohl sie gesellig wären.

Schmatzen, atmen, Kugelschreiber

Lina Meier, die 19-Jährige aus der Nähe von Basel, berichtet von der gemeinsamen Zeit mit ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren eine Beziehung führt. „Er zeigt sich extrem verständnisvoll“, sagt sie. „Aber natürlich ist es schwierig. Es stellt sich sogar die Frage, ob wir noch zusammen in einem Bett schlafen können.“ Lina, die sonst sehr fröhlich und aufgeweckt wirkt, ringt nun mit den Tränen.

War es bei Lina am Anfang vor allem das Schmatzen und Atmen, haben sich im Laufe der Zeit immer neue Auslöser für Reaktionen entwickelt: das Husten der Mitschüler, das Klicken eines Kugelschreibers, das Zirpen von Grillen. „In Stressphasen ist es besonders schlimm“, berichtet die 19-Jährige. „Während meines Abiturs habe ich sogar einen Trigger auf die eigene Atmung entwickelt. Da konnte ich kaum noch schlafen.“

So wenig man bisher über die Ursachen von Misophonie weiß, so schlecht scheint auch das Gesundheitssystem auf die Krankheit – die ja offiziell keine ist – vorbereitet zu sein. Lina berichtet, wie sich ihre Mutter „durch ganz Europa telefoniert“ habe, um eine fachkundige Person zu finden.

Die Bielefelder Psychologin Anne Möllmann kennt das Problem. „Wir können noch gar nicht genau festlegen, um welche Art von Krankheit es sich handelt und in welches Fachgebiet sie fällt. Ist es ein psychologisches oder ein HNO-Phänomen? Oder doch etwas Neurologisches?“ Dementsprechend schwer fällt es Betroffenen, ernst genommen zu werden und eine geeignete Therapie zu finden.

Bei der Recherche im Internet stoßen die meisten früher oder später auf Patrick Crauser und Andreas Seebeck. Klassische (Schul-)Mediziner sind beide nicht: Crauser (28) leidet selbst unter Misophonie und betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er sein „Misophonie-Coaching“ bewirbt. Seebeck (58) ist Heilpraktiker und hat einen Sohn, der betroffen ist.

„Wir sind zehn Jahre von einem Therapeuten zum nächsten gelaufen“, erzählt Seebeck. Die meisten hätten seinem Sohn geraten, Trigger-Geräusche nicht zu vermeiden. „Diese Konfrontation hat es aber nur schlimmer gemacht“, sagt Seebeck. Misophonie sei eben keine Phobie und keine Zwangsstörung; deshalb wirkten die klassischen Rezepte nicht.

Gegenkonditionierung statt Ablenkung

„Es ist besser, die Trigger zu übertönen“, sagt Seebeck. Da könnten schon ganz simple Dinge helfen: Musik anstellen, Kopfhörer aufsetzen, den Esstisch verlassen, sobald es unangenehm wird. Oft könne er mit Entspannungsübungen eine Verbesserung erreichen, sagt der Heilpraktiker. Aber auch er räumt ein: „Ich kann nicht allen helfen.“

Am Universitätsspital Basel wiederum kommt die HNO-Ärztin Antje Welge-Lüssen mehrmals im Jahr mit dieser „Spielform der Geräuschempfindlichkeit“ in Kontakt. Sie behandelt Misophonie-Patienten in ihrer Tinnitus-Sprechstunde, zusammen mit einer Psychologin.

Dem „Übertönen“ steht sie skeptisch gegenüber. „Das ist vielleicht eine kurzfristige Maßnahme, um wieder gemeinsam am Esstisch sitzen zu können“, sagt die Professorin. „Aber eine Person soll ja nicht ihr ganzes Leben mit Kopfhörern herumlaufen.“ Stattdessen konzentriert sie sich auf Entspannung und Gegenkonditionierung. „Je jünger jemand ist, desto größer die Erfolgsquote“, sagt Welge-Lüssen. Zwei ihrer Patientinnen und Patienten könnten inzwischen wieder normal essen.

Im Zweifel Kopfhörer

Die Betroffene Lina Meier kennt beide Welten. Sie war schon bei mehreren Schulmedizinern, hat aber auch den Heilpraktiker Andreas Seebeck aufgesucht. Demnächst hat sie ihren ersten Termin in der Tinnitus-Sprechstunde von Antje Welge-Lüssen.

„Ich hatte immer extrem große Hoffnungen“, sagt sie, „aber noch habe ich nicht die ideale Methode gefunden, die bei mir funktioniert.“ Seitdem der Abitur-Stress nachgelassen hat, geht es ihr wieder besser. „Ich kommuniziere meine Misophonie jetzt ganz offen“, sagt die 19-Jährige. „Das hilft, denn es nimmt den Druck raus. Und im Zweifel trage ich eben Kopfhörer.“