Bei einem Simultanevent in Peking und Los Angeles feiert der Autohersteller die elektrische Version des nostalgisch anmutenden Geländewagens. Aus Retro soll technische Avantgarde werden – auch mit der Hilfe von Hollywood-Stars.
Ein stillgelegter Gasspeicher im Pekinger Künstlerdistrikt Dashanzi und ein abgeschiedener See in Beverly Hills in Los Angeles – der Stuttgarter Autohersteller Mercedes-Benz hat für die Premiere seines neuen Elektroautos zwei ungewöhnliche Locations gewählt. Sie stehen nicht zufällig für die wichtigsten Absatzmärkte des beworbenen Automobils: China und die USA. Und sie sollen den Glamourfaktor betonen, den der Hersteller mit dem eher archaisch anmutenden Geländewagen namens G-Klasse verbindet. Das Besondere dieser Premiere: Es ist eine rein elektrisch angetriebene Variante des seit 1979 gebauten Offroad-Fahrzeugs.
Der Auftritt im Gasometer ist spektakulär in Szene gesetzt. Der Wagen fährt eine steile Rampe auf einem künstlichen Felsen hinab, stoppt auf halbem Weg, fährt rückwärts wieder ein Stück hoch – um schließlich auf die Bühne zu rollen, wo der Technikvorstand Markus Schäfer und der Mercedes-China-Verantwortliche Hubertus Troska die Elogen auf die Neuentwicklung singen. „Es gibt wenige Fahrzeuge mit einer so langen Geschichte. Die G-Klasse ist eng mit dem Markenwert von Mercedes-Benz verbunden, denn sie weckt Emotionen“, sagt Schäfer kurz vor dem Auftritt im Gespräch mit Journalisten. „Es ist für uns ein logischer Schritt, diese Fahrzeugfamilie jetzt mit einem voll-elektrischem Antrieb auf den neuesten technischen Stand zu bringen“, so Schäfer. Das Auto sei „ein Beweis der Ingenieurkunst von Mercedes“.
Prominente Werbeträger in Los Angeles
Den höheren Glamourfaktor kann an diesem Tag das Event in Los Angeles verbuchen, wo unter anderen Model Kendall Jenner und der Hollywoodstar Bradley Cooper ihr Interesse am elektrischen G bekunden. Der Kreis wird damit gewissermaßen geschlossen, denn als Erster hatte vor sechs Jahren Coopers Schauspielkollege Arnold Schwarzenegger eine elektrische Version gefordert. Der Adressat als Mercedes-Boss hieß damals noch Dieter Zetsche.
In Peking hingegen sind es gut 300 eher unglamouröse Medienvertreter, die der Show folgen und bemüht sind einzuordnen, was die Neuauflage des Nischenfahrzeugs für den Stuttgarter Konzern bedeutet. Mit großem Aufwand, so viel wird deutlich, macht sich Mercedes mit der G-Klasse auf zu einem Nostalgietrip in die Zukunft – ein durchaus ambitioniertes Unterfangen. Schließlich ist es der Versuch, dem kantigen Kastenwagen ein weiteres Mal neues Leben einzuhauchen. Was vor 45 Jahren als Gebrauchsfahrzeug für Jäger, Feldschütz und Wüstenabenteurer begann, hat sich in den 2000er-Jahren zum Renommiervehikel für Retroselige mit viel Kleingeld gewandelt. Nun soll daraus elektrische Avantgarde werden, um das Modell in eine postfossile Zeit zu bringen. Dabei, so hieß die Aufgabe für die Ingenieure, soll die G-Klasse ein optisches Statement bleiben und sich bei der archaischen Anmutung so wenig wie möglich verändern.
Ein Statement gegen den Zeitgeist
Ein Statement ist das Auto in den vergangenen Jahren zweifellos gewesen. Vor allem eines gegen einen (offenbar nur partiell vorherrschenden) Zeitgeist, dem vor Ressourcenverschwendung und Klimaschäden graut. Wer mit acht Zylindern, 585 PS und 363 Gramm CO2-Ausstoß pro Kilometer zum Fitnesscoach um die Ecke fährt und dabei die Auspuffklappen auf das weithin hörbare, tieftönige Blubbern einstellt, weiß, welches Signal er setzen will. Allradantrieb ist dafür in den wenigsten Fällen nötig.
Bei der G-Klasse, könnte man sagen, geht es weniger darum, wer sie braucht, als darum, wer sie haben will. Und das sind bemerkenswert viele. In den vergangenen Jahren gab es so viele Kaufwillige, dass Mercedes phasenweise einen Bestellstopp verhängte. Die Jahresproduktion hat nicht gereicht, die Nachfrage zu bedienen, obwohl sich erstere seit 2018 auf rund 43 000 Stück verdoppelt hat. Mit dem elektrischen G soll die Zahl noch steigen. Laut dem österreichischen Medium „Industriemagazin.at“ könnten bis zu 55 000 Stück im Jahr hergestellt werden. Mercedes selbst gibt keine Absatzziele für einzelne Modelle bekannt, will sich jedoch flexibel an die Nachfrage anpassen können. Schon seit 1979 wird der Geländewagen in Graz bei Magna Steyr gebaut, ab jetzt auf einer gemeinsamen Fertigungslinie für Verbrenner und die Elektrovariante. Beide unterscheidet im Wesentlichen der Unterbau. Die Karosserie ist nahezu identisch und gegenüber den Vorgängermodellen mit nur minimalen Eingriffen aerodynamisch leicht modifiziert.
Vom Nostalgiemobil zur „Freiheit ohne Reue“, wie Mercedes die elektrische G-Klasse bewirbt – das ist keine leichte Übung. Der Hersteller investiert viel Geld und Hirnschmalz, um den Retro-Chic des Klassikers zu erhalten. Beispielsweise hat auch der elektrische G die bekannten Türgriffe mit Druckknopf eingebaut, die ein charakteristisches Klacken verursachen. Damit sich das Auto aber, wie heute im Hochpreissegment üblich, auch durch bloßes Berühren des Griffs öffnet lässt, mussten die Teile komplett neu konstruiert werden.
Selbst der Klang des Originals soll irgendwie erhalten bleiben, obwohl gerade das fast lautlose Schnurren ein Qualitätsmerkmal des Elektroantriebs ist. Nostalgiker wie Wochenendposer aber schwören auf einen kernigen Sound, also hat Mercedes eigens ein elektronisches Geräusch namens „G-Roar“ entwickelt – ein zuschaltbares G-Gebrüll mit tiefen Bässen, „von den emotionalen V8-Sounds der Baureihe inspiriert“, so die Werbeunterlagen.
Zur Not dreht das Auto auf der Stelle
In puncto Geländegängigkeit soll das Elektroauto der herkömmlichen G-Klasse sogar überlegen sein. Vier individuell ansteuerbare Motoren, an jeder Radnabe einer, erlauben ungewöhnliche Manöver. Zum Beispiel den so genannten G-Turn, mit dem der Wagen fast auf der Stelle umdrehen kann. Das könnte nützlich sein, falls beispielsweise einmal eine Nashornherde die Weiterfahrt blockiert. Und die Wattiefe wurde um 15 Zentimeter erhöht, der Wagen kann jetzt durch 85 Zentimeter hohes Wasser fahren, die Batterie im Unterboden ist wasserdicht verbaut.
Dennoch entkommt auch der neue G den physikalischen Zwängen des Elektroantriebs nicht. Die schwere Batterie treibt unvermeidlich das Gesamtgewicht in die Höhe. Damit das Auto unter 3,5 Tonnen bleibt – es soll schließlich ohne Lkw-Führerschein zu fahren sein – wurde im Unterboden Carbon verbaut. Reiner Stahl wäre dreimal schwerer. Und trotzdem verringert sich die mögliche Zuladung auf 415 Kilo, beim Sechs-Zylinder-Benziner sind es 300 Kilo mehr. Und wo wir gerade bei den Zahlen des Elektro-G sind: Beschleunigung von null auf 100 Kilometer in 4,7 Sekunden, 587 PS und 473 Kilometer Reichweite nach dem üblichen Standardmessverfahren (WLTP). In der Regel heißt das: meistens ist es etwas weniger.
Ob sich Traditionalisten auf die Antriebswende einlassen, muss sich noch zeigen. Klar ist aber, dass Mercedes mit dem Auto auch auf neue Kunden zielt, die vielleicht weniger auf die Fahrleistungen Wert legen als auf die Gewissheit, mit dem wuchtigen Gefährt garantiert aufzufallen. Mercedes spricht von großer Resonanz, die sich nach der Ankündigung der Elektroversion gezeigt habe. Manche potenziellen Käufer werden ehrliches Interesse am emissionslosen Betrieb haben, andere dürften sich mehr für die Gimmicks am Rande interessieren. Das Sondermodell „Edition One“ beispielsweise kann mittels einer Außenspiegelprojektion den Schriftzug „Stronger than time“ auf den Asphalt beamen.
Der Luxusmarkt hinkt beim Elektroauto hinterher
Dass Mercedes auf das Luxussegment abzielt, hat sich herumgesprochen. Dem entspricht die „Edition One“ mit einer Preisliste, die bei 192.524,15 Euro beginnt. Das ist ein Preisniveau, auf dem sich in China noch kein nennenswerter Elektroautomarkt entwickelt hat. Das zeigt sich bei den Pkw, die im Luxusbereich meist noch mit Verbrennungsmotor geordert werden. Für Mercedes wird die G-Klasse deshalb ein weiterer Testlauf, ob es gelingt, sich oberhalb von Tesla und zahlreichen chinesischen Herstellern mit E-Autos zu etablieren. Anders als bei den Verbrennern, mit denen es in China die Hochpreisliga dominiert, ist dabei noch viel Entwicklungspotenzial.
Nachdem das elektrischen S-Klasse Pendant EQS in China einen holprigen Start erlebt hat und unter den Verkaufserwartungen blieb, blickt Mercedes nun mit besonderer Spannung auf das Abschneiden des elektrischen Geländewagens. Schon jetzt aber ist klar, dass die Modellfamilie noch weiter ausgebaut werden soll: Für die nächsten Jahre hat Mercedes bereits eine kleinere Variante des kantigen Autos angekündigt.
Anmerkung: Unser Reporter besucht die Automesse in Peking auf Einladung von Mercedes-Benz.