Thomas Stockers Blick richtet sich nach vorn: Wie kann der Klimawandel gebremst werden? Foto: University of Bern, Adrian Moser

Es ist das wohl bekannteste Beratungsgremium für die Politik zum Thema Klimawandel. Jetzt wird ein neuer Chef gewählt – seine Mission: eine Anleitung zur Rettung der Welt geben und die Rehabilitierung des UN-Klimarats.

Bern/Dubrovnik - Wie ein kleines Kunstwerk hängt das Gebilde aus Metall und Sperrholz in der Eingangshalle des Physikalischen Instituts der Universität Bern an der Wand. Es ist mehrere Meter breit und reicht bis unter die Decke. Beim ersten Blick mutet es an wie ein stark überzeichnetes Höhenprofil der Alpen. Bei genauerem Hinschauen entpuppt sich die Plastik jedoch als das Alarmsignal für das Weltklima schlechthin: Es ist ein Modell der CO2-Kurve, die das Auf und Ab der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre über eine sehr lange Zeit darstellt. Über nahezu 800 000 Jahre hinweg hat sich die Konzentration in einem ähnlichen Korridor bewegt. Doch seit dem Beginn der Industrialisierung kennt die Kurve nur noch eine Richtung: steil nach oben. Sie steigt fast senkrecht in die Höhe und geht nicht mehr zurück. Das Modell trägt den Titel „Eine unbequeme Wahrheit“.

Heute ist die Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre rund ein Drittel höher als je zuvor in der rekonstruierten Klimavergangenheit. Mitformuliert hat diese „unbequeme Wahrheit“ Thomas Stocker. Der 56-jährige Klimawissenschaftler arbeitet seit 1993 als Professor für Physik an der Universität und hat wenige Meter von dem Modell entfernt sein Büro. Mit Hilfe eines 3270 Meter langen Eisbohrkerns aus der Antarktis haben Stocker und sein Team die CO2-Konzentration rekonstruiert.

Seit 17 Jahren arbeitet Stocker für den Weltklimarat

Doch mit der Vergangenheit will sich der Schweizer nicht lange aufhalten, sie dient ihm allenfalls zur Analyse. Sein Blick richtet sich in die Zukunft und darauf, wie der Klimawandel gebremst und das Zwei-Grad-Ziel zur Eindämmung der Erderwärmung doch noch erreicht werden kann. Deshalb kandidiert er nun für den Vorsitz im Weltklimarat, dem wichtigsten Beratungsgremium der Politik in Sachen Klimapolitik.

Seit 17 Jahren arbeitet Stocker nun schon für das Intergovernmental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen, kurz IPCC – oder Weltklimarat. Seit 2008 leitet er zusammen mit dem Chinesen Qin Dahe die Arbeitsgruppe I, die sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels befasst. Er war einer der Hauptautoren der letzten drei Weltklimaberichte. „Das ist ein Privileg, als Wissenschaftler das erarbeitete Wissen in ein Produkt packen zu können, das politisch relevant ist, aber nicht Politik vorschreibt“, beschreibt Stocker seine Arbeit in der UN-Organisation. „Dieser letzte Weg des wissenschaftlichen Resultates hat mich schon immer interessiert, neben dem ersten Weg des Entdeckens und Forschens.“

Seine Kandidatur für den vakanten Vorsitz des Weltklimarats sei nun „die logische Konsequenz nach diesen 17 Jahren“. Die bisherige Arbeit habe ihn enorm befriedigt. „Dieser Prozess hat mich enorm begeistert, so dass ich mich nun bereit fühle, auch etwas mehr Verantwortung zu übernehmen.“ Priorität müsse die wissenschaftliche Robustheit der Arbeit des Weltklimarats haben, sagt Stocker und spielt damit unter anderem auf grobe Fehler im vierten großen Sachstandsbericht an, als falsche Prognosen über die Geltscherschmelze einen Sturm des Protests gegen den Weltklimarat auslösten.

Wahl des Vorsitzenden ist auch eine politische Entscheidung

Stocker, geboren und aufgewachsen in Zürich, ist eloquent, offen, dynamisch, ehrgeizig und schlagfertig. In sein Büro an der Großen Schanze unweit des Berner Hauptbahnhofs fährt der Vater zweier Töchter meistens mit dem Fahrrad. Eine Krawatte trägt der Mann mit der schwarz umrandeten Brille nur, wenn es sein muss, bei offiziellen Anlässen. Er kauft sein Fleisch beim heimischen Metzger und Gemüse, das gerade Saison hat. „Ich habe ein gewisses Bewusstsein, bin aber nicht Vorreiter und schon gar kein Missionar.“

Er gilt als einer der renommiertesten Klimaforscher weltweit.Wegen seiner exzellenten fachlichen Expertise, aber auch weil er die Klaviatur der Öffentlichkeitsarbeit bestens beherrscht und so die wissenschaftlichen Erkenntnisse einem breiten Publikum verständlich und transparent nahebringen kann. Unter seiner Führung kondensierten die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse zu Kernaussagen in Schlagzeilenform, damit sich Politiker weltweit auf sie abstützen und damit argumentieren können.

Doch trotz seiner großen Reputation geht Stocker nicht als Favorit ins Rennen, der Wahlausgang ist völlig offen. Zumal das Prozedere bei der Plenarsitzung des Weltklimarats im kroatischen Dubrovnik eine ganz eigene Dynamik entwickeln kann: Wahlberechtigt sind nur jene UN-Staaten, die mit einem Vertreter anwesend sind. Es gibt zwei Wahlgänge. Erforderlich ist die absolute Mehrheit. Schafft das kein Kandidat, treten die beiden Bestplatzierten zur Stichwahl an. Es gibt keine Stimmgewichtung. So kommt auch den kleinen Inselstaaten, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, ein großes Gewicht zu.

Der Schweizer hat 31 Länder vor der Wahl besucht

Einen Wahlkampf im klassischen Sinn gibt es nicht. Dennoch hat Stocker in den vergangenen Monaten 31 Staaten rund um den Globus bereist, von den Malediven über Pakistan, Brasilien bis nach Saudi-Arabien. „Ich habe mich und meine Schwerpunkte vorgestellt, aber auch sehr genau zugehört, welche Bedürfnisse diese Länder haben, welchen spezifischen Gefahren des Klimawandels sie ausgesetzt sind“, sagt Stocker. Dass bei der Wahl für ein Weltgremium nicht immer nur die fachliche Qualifikation ausschlaggebend ist, dessen ist sich Stocker bewusst. „Die Chancen sind intakt“, sagt er. Die Neutralität der Schweiz sei auf keinen Fall ein Nachteil.

Im Kern geht es bei der Aufgabe darum, den Weltklimarat in den nächsten Jahren politikrelevant zu halten. Als verlängerten Arm der Politik sieht sich Stocker aber nicht. Im Gegenteil: Er will Impulsgeber sein, Ideen einbringen, entscheiden aber, wie es mit der Klimapolitik weitergeht, müssen die Staats- und Regierungschefs selbst. Deshalb hat der neue Chef des Weltklimarats auch beim UN-Gipfel in Paris Ende des Jahres keine herausgehobene Rolle, ihm kommt bestenfalls die Aufgabe einer Begrüßungsrede zu. „Es gibt eine ganz klare Trennungslinie zwischen der wissenschaftliche Beurteilung dessen, was wir wissen über den Klimawandel und was die möglichen Lösungen und Handlungsoptionen daraus sind – das ist die Aufgabe des IPCC –, und den politischen Entscheidungen, das ist die Sache der politisch Verantwortlichen an der Weltklimakonferenz“, stellt Stocker klar.

Ziel in Paris ist ein verbindlicher Vertrag aller 195 UN-Staaten

Für die Welklimakonferenz in Paris ist er vorsichtig optimistisch. „Es geht sehr langsam, das ist offensichtlich.“ Immerhin hätten die politischen Entscheidungsträger aber klar das Zwei-Grad-Ziel erhoben als das, was erreicht werden solle. Sprich: Die globale Erwärmung soll um weniger als zwei Grad Celsius gegenüber dem Niveau vor Beginn der Industrialisierung steigen. Wenn dieses Ziel erreicht werden solle, sei jedes Jahr, das vorbeizieht und in dem die Emissionen so hoch sind wie heute, „ein Jahr, das uns weiter entfernt von der Möglichkeit, dieses Klimaziel noch zu erfüllen“. Stocker stellt klar: „Es gibt keine Zeit zu verlieren. Der Preis ist die Unerreichbarkeit von Klimazielen.“

Wichtigstes Ziel in Paris müsse sein, dass alle Staaten in der Vereinbarung dabei sind, „dass es keine Länder gibt, die sich von diesem Prozess verabschieden“. Und: Ein solches Dokument müsse eine rechtliche Kraft haben. „Ich vertraue darauf, dass es auch Länder gibt, die langsam die Chance sehen in diesem großen Prozess des Dekarbonisierens weg von fossilen Energieträgern“, sagt Stocker. „Das ist eine globale Aufgabe, die die Ausmaße einer industriellen Revolution hat. Die Mechanisierung, Elektrifizierung, Digitalisierung haben alle zu neuem Reichtum, zu neuen Arbeitsplätzen, unter dem Strich zu verschobenen Machtverhältnissen und zu einer erhöhten Lebensqualität geführt.“ Es gebe keinen Grund zu zweifeln, dass diese vierte industrielle Revolution dies auch schafft.