Autistische Menschen gelten vielfach als Eigenbrödler und Kommunikationsscheu – solche allgemeinen Vorurteile treffen oft nicht zu Foto: dpa

Autisten sind hochbegabt, aber unemotional – noch immer herrschen viele Vorurteile über Menschen mit Autismus-Spektrums-Störungen. Zum Weltautismustag an diesem Donnerstag werben Fachleute für mehr Verständnis – und für eine sachliche Debatte.

Stuttgart - Der junge Mann führt den Bogen sicher über die Saiten seines Cellos, die Töne sind kräftig, die Fingergriffe sitzen. Er blickt kurz nach links, nickt seiner Schwester und der Mutter zu, damit auch der Schlusston sitzt. Der erste und zweite Satz aus dem Vivaldi-Doppelkonzert in d-Moll, so hatte er das Stück angekündigt. Christian von Bonin ist Asperger-Autist. Und er ist ein Musiktalent – „freier Cellist“, wie er selbst sagt, aber er spielt auch Gitarre, Alphorn, Vuvuzela und Klavier. „Das Faszinierende an der Musik ist für mich die Komposition des Musikstücks an sich“, sagt er.

Der 20-Jährige hat eine bestimmte Form von Autismus, die in Deutschland bei etwa drei von 1000 Menschen auftritt. Vom Asperger-Syndrom unterschieden wird vor allem der frühkindliche Autismus, der sich schon vor dem dritten Lebensjahr zeigt. Insgesamt etwa 0,7 Prozent der Menschen in Deutschland haben nach Schätzungen des Bundesverbands autismus e.V. eine Autismus-Spektrums-Störung – in Baden-Württemberg wären das etwas mehr als 60 000 Fälle.

„Bei Autismus handelt es sich ganz allgemein um Störungen der psychosozialen und emotionalen Kommunikation, der Sprache und der Motorik“, erklärt Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsbiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Bei einem Fachtag des Regionalverbands autismus Stuttgart e.V. versucht er, autistisches Verhalten aus neurobiologischer Sicht verständlich zu machen.

Ausprägungen und Schweregrade sind sehr unterschiedlich

Obwohl eine Verallgemeinerung schwer ist: „Die Ausprägungen und Schweregrade von Autismus sind sehr unterschiedlich“, sagt er. Während manche Autisten kaum sprechen können oder eine geistige Behinderung haben, reden andere ganz normal, sind in Teilgebieten wie Mathematik oder Musik gar hochintelligent.

Aus neurobiologischer Sicht sind Störungen im Autismus-Spektrum „tiefgreifende Hirnentwicklungsstörungen“, sagt Gerhard Roth. Das heißt: Defizite in der Ausbildung von Nervenzellen im Gehirn und Einschränkungen bei der Kommunikation zwischen diesen Nervenzellen. „So sind Bereiche in der rechten Gehirnhälfte, die für Bewertung oder für Empathie zuständig sind, teils nicht vollständig ausgebildet oder nicht mit anderen Bereichen des Gehirns verknüpft“, sagt der Wissenschaftler.

Oft falle es Autisten daher schwer, Details in einen großen Zusammenhang zu setzen, Sinn aus all den einprasselnden Eindrücken zu machen oder Sprache mit Emotionen zu verbinden. Auch fremdes Verhalten oder Mimik zu erkennen und zu verstehen ist dann mitunter schwierig.

Autismus in der Literatur: Dietmar Zöller

Wie sie selbst empfinden und dass sie durchaus empfinden, drücken viele autistische Menschen in Texten und Büchern aus: „Am Anfang war das Chaos“, so hatte Dietmar Zöller einmal geschrieben. „Dann kam ein liebender Mensch und brachte Ordnung in das Chaos.“

Auch Dietmar Zöller hat eine sogenannte Autismus-Spektrums-Störung. Seine Mutter engagiert sich seit vielen Jahren im Regionalverband autismus Stuttgart. Mit Info-Veranstaltungen, Aktionen und Fachtagen wirbt der Verband für mehr Differenzierung und Verständnis für Autisten. „Es ist in unserer Gesellschaft noch immer nicht selbstverständlich, dass ernst genommen wird, was autistische Menschen sagen und schreiben“, sagt Zöller. „Viele sehen erst einmal den Behinderten, den Autisten, und nicht den Menschen dahinter.“

Mit dem Fachtag zum Thema Autismus möchte Zöller die Diskussion „versachlichen“, wie sie sagt: „Wenn ich weiß, da ist etwas anders im Gehirn autistischer Menschen, dann kann ich sie ja schlecht dafür verurteilen.“ Immer wieder habe sie erlebt, wie gerade Müttern oft die Schuld am autistischen Verhalten ihrer Kinder gegeben wird.

Keine frühkindliche Traumaerfahrung

Dass solche Schuldzuweisungen völlig unbegründet sind, bestätigt auch Hirnforscher Roth: „An Entwicklungsstörungen im Gehirn hat niemand Schuld. Es gibt bei Autismus keine frühkindliche Traumaerfahrung oder Ähnliches“, sagt er. Heilbar sind die Entwicklungsstörungen daher nicht – aber es gibt Therapie-Ansätze, die auf die Auswirkungen abzielen: „Durch ständiges Wiederholen können Denkprozesse oder Verhaltensweisen eingeübt werden, die normalerweise automatisiert ablaufen würden“, sagt Roth.

Durch intensives Üben hat auch Christian sein musikalisches Können entwickelt. „Das war harte, intensive Arbeit“, sagt er. An seiner Schule, einer Waldorfschule, sei dafür Raum gewesen, sagt seine Mutter Sabine von Bonin: eine Mischung aus Inklusion und Schutzraum, mit Orchester und Arbeit im Garten. Für viele autistische Kinder sei solch ein Schutzraum mit individueller Förderung wichtig, so von Bonin. Oft sei die Gesellschaft für eine gelingende Inklusion einfach noch nicht bereit, oder die Lehrer trauten sich die Betreuung autistischer Kinder nicht zu.