Farida Fazeli beim Schreiben Foto: Brucker

Am 8. September hat die Unesco den Weltalphabetisierungstag ausgerufen. 750 Millionen Menschen können weltweit nicht lesen und schreiben. Die Afghanin Farida Fazeli erzählt, was es heißt, eine Analphabetin zu sein.

Stuttgart - Was für andere ein Kinderspiel ist, treibt Farida Fazeli die Schamesröte ins Gesicht. Wieder einmal steht sie in einer Bank und möchte einen Kundenberater dazu bewegen, dass er ihr das Überweisungsformular ausfüllt. Doch seit es Selbstbedienungsterminals gibt, hat die 53-Jährige keine Chance mehr. Unverrichteter Dinge verlässt sie die Bank, nimmt ein Formular mit und lässt es von Sohn oder Freunden ausfüllen. „Ich habe mich nicht getraut, den Bankangestellten um Hilfe zu bitten. Es standen so viele Kunden hinter mir“, sagt sie und erzählt, wie jeder Einkauf, jeder Brief zur Belastung wird. Sie könne noch die Adresse lesen, aber beim Inhalt habe sie Schwierigkeiten, ihn vollständig zu verstehen.

Die 53-Jährige ist eine von schätzungsweise 750 Millionen Menschen weltweit, die nicht lesen und schreiben können. Fast zwei Drittel von ihnen sind Frauen und Mädchen, heißt es bei der Unesco. Sie hat 1965 den Weltalphabetisierungstag ins Leben gerufen. Er wird seit 1966 jährlich am 8. September begangen, um auf den Stand der Alphabetisierung aufmerksam zu machen. Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung gibt es in Deutschland, so die Leo-Grundbildungs-Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011, rund 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten, die die deutsche Sprache beherrschen, aber trotz Unterrichts kaum lesen und schreiben können.

Nach 40 Jahren wieder die Schulbank gedrückt

Nicht erfasst werden in dieser Studie – die nächste soll im Mai 2019 veröffentlicht werden – Geflüchtete wie Farida Fazeli. Drei Jahre lang war die Afghanin in Kabul in der Schule, wurde als Mädchen verheiratet und lebte fortan als Hausfrau, bis sie 1995 mit Mann und Sohn vor dem Krieg aus Afghanistan nach Deutschland floh. Sie kämpfte um ihre Duldung und arbeitet seit 2000 in derselben Firma.

2013 drückt sie nach 40 Jahren erstmals wieder die Schulbank. Sie spricht mittlerweile fließend deutsch, besuchte aber einen Alphabetisierungskurs für Migranten und nicht für Deutsche. Dort lernte sie gemeinsam mit Menschen, die zum Teil kein Wort deutsch sprechen.

Ihr Ziel bis heute: das Sprachniveau B1 zu erreichen und den deutschen Pass zu bekommen. Fast 1300 Unterrichtseinheiten, davon 100 zur Orientierung zur Vermittlung von Werten des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sind dafür laut Bundesministerium für Integration und Bildung vorgesehen. Das sind täglich vier Stunden Unterricht über eine Zeitraum von insgesamt zwei Jahren hinweg. Zu wenig findet Fazil: „Wir sollen in anderthalb Jahren dieses Sprachniveau erreichen, das kann nicht klappen.“ Sie kämpfte in ihrem Drei-Schicht-Betrieb darum, die Arbeitszeit so einzuteilen, dass sie am Unterricht teilnehmen konnte. Sie wollte endlich nicht mehr permanent auf Hilfe angewiesen sein, beim Einkaufen, den Behördengängen oder in der Freizeit. Nach der Schule ging sie in den Betrieb, arbeitete Vollzeit, versuchte das in der Schule Gelernte zu üben.

Sechs bis acht Teilnehmer wären optimal

Zu wenig Zeit blieb ihr dafür und wenn sie im Unterricht war, konnte sie sich nicht immer voll und ganz darauf konzentrieren. Die kurz zuvor erfolgte Scheidung von ihrem Mann war nur eines der vielen Probleme, die sie privat belasteten. Ihre ehemalige Lehrerin, Paraskevi Konstanti, die seit mehr als zehn Jahren Alphabetisierungskurse gibt, kennt diese Nöte ihrer Schülerinnen und Schüler. Oft seien sie mit dem Kopf woanders, weil sie viele Sachen – wie aktuell beispielsweise bei den Syrern Kriegserlebnisse zu verarbeiten haben und sich um Angehörige in der Heimat sorgten.

Es sei kaum möglich, das B1-Niveau zu erreichen. Fortschritte seien schon, wenn eine Frau sich traue, am Telefon zu kommunizieren. Mehr Ehrenamtliche und mehr Sozialarbeiter, die Hand in Hand mit den Alphabetisierungslehrern arbeiten, seien gefragt. Hinzu komme, dass vor rund zwei Jahren die Kursgröße von zwölf auf 16 erhöht wurde, um den vielen Menschen, die nach Deutschland kamen, einen Kurs zu ermöglichen. Nachteil: Die Gruppen werden immer inhomogener. Menschen, die noch nie einen Stift in der Hand hatten, sitzen mit solchen zusammen, die schon lesen und schreiben gelernt haben. Es sei schwierig in so einer großen Gruppe allen gerecht zu werden, sagt Konstanti. Aus ihrer Sicht wären sechs bis acht Teilnehmer optimal. Doch da stelle sich die Frage der Finanzierung.

Beim Hörverstehen durchgefallen

Mit der beschäftigt sich gerade auch Fazeli. Sie hatte am Ende ihres Alphabetisierungskurses im 2015 die B1-Prüfung nicht geschafft. Zwar erreichte sie beim Sprechen die volle Punktzahl, ebenso im Modul „Orientierung zur Vermittlung von Werten des gesellschaftlichen Zusammenlebens“. Doch weil sie zu langsam gelesen hatte, fiel sie beim Hörverstehen-Test durch. Jetzt will sie erneut einen Kurs machen, um endlich ihre Überweisungsformulare zuverlässig ausfüllen zu können und den ersehnten deutschen Pass zu bekommen.