Frank Genske im nahezu leeren Wartezimmer seiner Praxis. Aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus meiden viele Patienten derzeit den Arztbesuch. Foto: Staufenpress

Viele Patienten schrecken in der Corona-Krise vor dem Gang zum Arzt zurück. Mediziner im Landkreis Göppingen warnen: Das kann gefährlich werden – wie ein dramatisches Beispiel zeigt.

Göppingen - Diese Woche kam ein Patient in die onkologische Sprechstunde in die Klinik am Eichert. Unter der Haut am Brustkorb zeichnete sich ein faustgroßer Tumor ab. „Der war bestimmt auch schon vor drei Monaten da“, sagt Professor Martin Bommer. „Der Patient kann nicht mehr geheilt werden“, fügt der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Infektionskrankheiten und Palliativmedizin hinzu.

Patienten mit Tumoren im fortgeschrittenen Stadium sehen die Ärzte im Landkreis Göppingen derzeit häufiger. Aus Angst, sich mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken, meiden viele Menschen das Wartezimmer oder das Krankenhaus. Doch der Gang zum Arzt, vor allem mit chronischen und schweren Erkrankungen, sollte nicht auf die lange Bank geschoben werden, weil gerade der Faktor Zeit wichtig für den Behandlungserfolg sei, appellieren Martin Bommer und sein Kollege, Professor Stephen Schröder, an die Menschen im Landkreis.

Selbst Patienten mit akutem Herzinfarkt warten oft erst mal ab

Schröder ist Chefarzt der Klinik für Kardiologie und Internistische Gefäßmedizin am Eichert. Und auch er stellt fest: „Brustschmerzen werden in diesen Tagen häufiger ausgesessen.“ Das heißt, Patienten mit einem akuten Herzinfarkt suchen erst spät ärztliche Hilfe, warten zu Hause ab, ob es von selbst wieder besser wird, obwohl es sich um einen absoluten Notfall handelt. „Bis der Katheter dann geschoben wird, vergehen einige Tage“, sagt Schröder. Infarkte gebe es in der Zahl zwar nicht weniger, und auch die Sterberate sei nicht erhöht, „aber die Prognose verschlechtert sich“, warnt der Herzspezialist davor, aus Angst vor Corona das Krankenhaus zu meiden. Denn Infarkte, Schlaganfälle und Krebs machen auch vor Covid-19 nicht Halt.

Bommer macht einmal mehr deutlich, dass positiv und negativ getestete Patienten in den Alb-Fils-Kliniken strikt voneinander getrennt werden. Das Infektionsrisiko im Krankenhaus sei daher minimal. Die Kliniken halten selbst einen eigenen OP-Saal mit eigenem OP-Personal vor für den Fall, dass ein Covid-Patient akut operiert werden muss. „Es gibt keine Durchmischung“, fasst Bommer zusammen. Zudem habe sich die Situation entspannt, derzeit liegen noch sechs Patienten mit Covid-19 stationär am Eichert. Die Helfensteinklinik in Geislingen wird seit mehreren Wochen Covid-frei gehalten. Insgesamt seien in den vergangenen Monaten rund 200 Menschen mit der Lungenkrankheit in den Kliniken in Göppingen und Geislingen behandelt worden, bei rund 600 Patienten wurde der Verdacht auf eine Covid-Infektion ausgeschlossen, 39 Patienten sind gestorben. Auch wenn die Zahl der bestätigten Fälle im Landkreis stetig zurückgeht: „Wir werden mit Corona leben müssen“, sagt Bommer – bis ein Impfstoff gefunden ist oder eine gewisse Herdenimmunität erreicht ist.

Die Ärzte betonen, die Gefahr sei in keiner Weise gebannt

Der Ärztliche Direktor ist froh, dass der Landkreis mit einem blauen Auge davongekommen ist. Gesundheitsamt, Landratsamt, niedergelassene Ärzte, Rettungsdienste und Kliniken hätten an einem Strang gezogen und die Pandemie gut in den Griff bekommen. „Es wird dennoch immer wieder kleinere lokale Ausbrüche geben“, warnt Bommer vor einem zu lockeren Umgang und einer gewissen Sorglosigkeit, die vielerorts zu beobachten sei. Sein Kollege Stephen Schröder pflichtet ihm bei: „Die Gefahr ist in keiner Weise gebannt.“ Erfolg oder Misserfolg beim Umgang der Pandemie hingen stark davon ob, „wie wir alle uns an die Regeln halten“.

Die Alb-Fils-Kliniken stellen ihren Betrieb derzeit stufenweise wieder in Richtung Normalbetrieb um, was die medizinischen Leistungen betrifft. Die Klinik lege aber größtes Augenmerk darauf, „dass kein Patient infiziert ins Haus kommt“, betont Bommer. Sollte die Zahl der Infizierten wieder steigen, „können wir innerhalb von 48 Stunden wieder in Richtung Infektionsgeschehen aufrüsten“.

Nun gilt es, die Patienten wieder zurückzuholen

Schröder und Bommer räumen ein, schlaflose Nächte gehabt zu haben, als die Pandemie auf Deutschland zurollte. Glücklicherweise kam es nicht so knüppeldick wie befürchtet. Nun gelte es, die Patienten wieder zurückzuholen. Und es gibt positive Signale: „Es scheint abzuebben. Die Patienten haben wohl allmählich weniger Vorbehalte, in die Sprechstunde zu kommen“, sagt der Ärztliche Direktor. „Es zieht im Vergleich zu März und April ein bisschen an“, bestätigt der Vorsitzende der Kreisärzteschaft, Dr. Frank Genske. Auch der Göppinger Mediziner betont: „Die Erkrankungen sind ja durch Corona nicht verschwunden.“ Patienten mit Beschwerden sollten daher ihre Symptome ernst nehmen und zum Arzt gehen, denn zu viel Vorsicht könne schwerwiegende Folgen haben. Genske geht auch davon aus, dass es durch vorübergehend gestrichene Vorsorgeuntersuchungen eine höhere Rate von zu spät erkannten und nicht mehr so gut behandelbaren Tumorleiden geben wird. „Wir werden eine zweite Welle bekommen, eine zweite Welle an ernst zu nehmenden Erkrankungen“, blickt der Mediziner in die Zukunft.