Marcel Idler zeigt Anna Breitenbach, worauf es beim Rebschnitt ankommt. Foto: Stoppel

Für die Baden-Württembergischen Literaturtage begleitet die Esslinger Dichterin Anna Breitenbach den Wengerter Marcel Idler aus Weinstadt-Strümpfelbach durch das Weinjahr – auf der Suche nach Inspiration.

Weinstadt - Es ist ein ungleiches Paar, das da im Weinberg steht. Er: ein aufstrebender, junger Wengerter, ausgestattet mit robuster Arbeitskleidung, festen Gummistiefeln und Akku-Rebschere; sie: eine Dichterin, schon viele Jahre im Metier, mit Lackschuhen, Lederhandtasche, Stift und Papier. „Es ist wichtig, dass man als Fruchtrute für das nächste Jahr eine auswählt, die gut ausgereift ist und auch von der Position gut steht“, weist Marcel Idler Anna Breitenbach in die Kunst des Rebschnitts ein – zumindest theoretisch. Selbst mit der Schere an seine Rebstöcke lässt er sie nicht.

 

Anna Breitenbach macht sich Notizen. Denn sie hat eine Mission zu erfüllen. Für die Baden-Württembergischen Literaturtage, die nächstes Jahr in Weinstadt stattfinden, soll sie den jungen Strümpfelbacher Öko-Wengerter durch das Weinjahr begleiten und ihre Erfahrungen literarisch verarbeiten. Außer der Esslinger Lyrikerin suchen in den kommenden Monaten noch drei Dichter in den Weinbergen rund um die Stadt nach Inspiration: Walle Sayer, Susanne Stephan und José F. A. Oliver – alle in fachmännischer Begleitung von ortsansässigen Wengertern der Weingüter Bernhard Ellwanger, Gold und Kuhnle.

Parallelen zwischen Weinbau und Dichtung

„Das ist wie in der Dichterei“, stellt Anna Breitenbach fest, „auch ein Gedicht ist ein Körper, und man muss aufpassen, dass man nicht wichtige Triebe absäbelt.“ Dennoch müssten störende Wörter daraus entfernt werden, „denn sie machen das Gedicht flach“.

„Wenn ich den Rebschnitt selbst mache, sehe ich, wie die Ausbrecharbeiten gemacht wurden und kann, wenn mir an der Form etwas nicht gefällt, noch Einfluss nehmen“, führt Marcel Idler weiter aus. Denn die Form sei entscheidend für die Entwicklung des Stocks, stelle die Weichen für viele Jahre. „Halt – Ausbrechabreiten, den Begriff muss ich mir aufschrieben“, unterbricht ihn Anna Breitenbach.

Es sind einzelne Fachwörter, welche die Lyrikerin aufschnappt, sammelt und daheim am Schreibtisch in Esslingen zu Gedichten heranreifen lässt, wie die Idlers im Keller ihren Wein – noch so eine Parallele zwischen Weinbau und Dichtung. Allerdings reifen die Wörter in Breitenbachs Gedanken wesentlich schneller. Die ersten, die sie im Herbst bei der Lese gesammelt hat, sind schon zu fertigen Gedichten gediehen, etwa die Ausführungen von Marcel Idlers Vater über eine „süßfaule“ Traube (siehe „Spätlese, mit Winzer“). „Daraus ist ein erotisches Gedicht entstanden“, berichtet Breitenbach, sucht es aus einem Fundus an einzelnen Papierblättern, heraus und trägt es Idler vor. Der lässt die Akku-Schere ruhen, lauscht und grinst.

Inspiration auch für den Wengerter

„Da bekommt man einen ganz anderen Blick auf seine Arbeit, lernt seinen Beruf noch mehr zu schätzen. Das ist auch eine schöne Inspiration für uns“, meint Marcel Idler, der schon von Jugend an nur einen Berufswunsch hatte: Seinen eigenen Wein zu kreieren. 2012 hat sich der jetzt 27-Jährige diesen erfüllt, er liefert seine Trauben seither nicht mehr bei der örtlichen Genossenschaft ab, sondern keltert selbst. Bereits vor dem Schritt in die Selbstständigkeit hat Idler, der nach dem Abitur im Weingut Wöhrwag in Stuttgart-Untertürkheim in die Lehre ging und dann an der Hochschule Geisenheim Weinbau studierte, sukzessive die zu zuvor lediglich im Nebenerwerb bewirtschaftete Weinlage der Familie um weitere Flächen erweitert – von vier Ar auf aktuell fünf Hektar.

Spätlese, mit Winzer

So hing sie, die

süß faule Frucht

vor ihm, üppig

hingestreckt,

Südseite! Auf

dem Rebenbett,

hingegeben,

sonnenbreit,

schwer wehrlos

mit dem vollen

Fruchtfleisch,

abgefüllt mit

Sommersaft.

Er nahm sie

mit links, schnitt

mit rechts und

holte sie sich,

schön überreif,

pflückbereit,

von der Rebe,

der Ranke runter

mit sanfter Kraft.

Anna Breitenbach