Als Opa Reben schmuggelte und Oma das Schlafzimmer für Sommergäste räumte: Am Bodensee hat der Dreiklang aus Weinbau, Obstbau und Tourismus Tradition.
Links reifen die ersten Äpfel, rechts grünen noch die Zwetschgen, die Hänge hinauf zieht sich ein dichtes Geflecht von Weinreben. Die kleine Tour auf dem Bodenseeradweg von Immenstaad nach Hagnau führt sozusagen mitten durch die gute Stube des Gastgebers am Zielort: Der Winzerverein Hagnau, der in einem 1500-Seelen-Dorf zuhause ist, aber 50 Winzerbetriebe aus Hagnau und Immenstaad unter seinem Dach versammelt und bis zu 1,3 Millionen Flaschen Wein jährlich produziert.
Ein Pfarrer war die Rettung
Geboren wurde die älteste badische Winzergenossenschaft aus der Not heraus. Bis ins 18. Jahrhundert bauten Mönche an den Südhängen der Bodensee-Nordseite Messwein an für ihr Heimatkloster Weingarten. „Doch mit der Säkularisierung gingen die Klöster – und die Händler kamen und drückten die Preise“, erzählt Stephanie Megerle von der Geschäftsleitung des Hagnauer Winzervereins. Die Rettung nahte in Gestalt des Schriftstellers und Bürgerrechtlers Heinrich Hansjakob, der ab 1869 Pfarrer in Hagnau war. Er sah die Notlage der Hagnauer – 1881 lag der Literpreis für Wein bei 15 Pfennig – und motivierte sie zum Zusammenschluss.
Daran erinnert noch heute die alte Satzung, die am kunstvoll gestalteten Hallentor der hochmodernen Produktionsanlage angeschlagen ist: Durch gemeinsames Auftreten und Wirtschaften wolle man „den Preis im Herbst nicht zu Spottpreisen herabsinken lassen“ und „Rebgüter nicht in die Hände von Spekulanten geben“. Das Genossenschaftsprinzip wird bis heute gelebt in Hagnau. Der Nachwuchs – an dem es laut Stephanie Megerle echt keinen Mangel gibt – trägt es in die Zukunft. Sie selbst, studierte Touristikerin, kommt aus einem Winzerbetrieb, den heute ihr Bruder führt. Dafür kehrte der Weinbautechniker nach Stationen in Neuseeland und Kalifornien zurück an den Bodensee.
Noch immer logiert der Winzerverein mitten im Dorf, im Schatten der Kirche, in der Hansjakob einst predigte. Doch in den auf einem ganzen Netz aus historischen Weinkellern gründenden Bauten laden liebevoll gestaltete Verkaufs- und Veranstaltungsräume zum Verkosten und Mitnehmen der Hagnauer Weine. Müller-Thurgau, Spät- und Grauburgunder reifen auf 177 Hektar Rebfläche. Das Anbaugebiet zieht sich vom Bodenseeufer bis hinauf in die wörtlich zu nehmenden Weinberge.
Hier wird gearbeitet. „Erst die Vorlese – da kommt Faules raus – dann die Hauptlese und eventuell noch eine zweite Runde“, schildert Megerle. Das Problem am Bodensee sei die oft abrupte Wetteränderung, die eine schnelle Lese nötig macht, damit nichts fault. „Boden plus Klima plus Winzer ergibt Weinspezialität“, heißt das Rezept für den Erfolg des Bodenseeweins.
Im Starenturm wachen die Senioren
Die Spezialitäten locken auch ungebetene Gäste. „Im Herbst kommen Starenschwärme auf dem Weg ins Winterquartier hier vorbei. Wenn eine eher späte Lese ansteht, wird eine Starenwache eingesetzt“, erzählt Megerle. Dafür sitzen meist Hagnauer Winzersenioren hoch oben im Starenturm im Weinberg, und zwar von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.
Sobald ein Starenschwarm im Anflug ist, wird kräftig gelärmt mit Lautsprechern, die „irgendetwas Gema-freies, also U-Bahn New York oder Vogelgekreische“ in die Weinberge blasen und die Vögel davon abhalten, mal eben alles kahl zu fressen.
Musik und Wein zwischen den Reben
Die meisten Winzer am deutschen Bodensee sind Familienbetriebe und leben von drei Standbeinen: Wein, Obst und Tourismus, idealerweise kombiniert. So lockte das Pop-up Weinsüden in Hagnau aus dem Stand 2000 Menschen zu Musik und Wein in die Weinberge. „Urlaubsgäste, die zufällig da waren, fragten schon bei der Touristinfo, wann der nächste Termin ist“, freut sich Stephanie Megerle, die das Event gemeinsam mit Rebecca Röhrenbach organisiert hat.
Die ist Juniorchefin des Weinguts Röhrenbach in Immenstaad-Kippenhausen und Urenkelin des berühmten Rebenschmugglers, der einst den Müller-Thurgau nach Deutschland brachte und seine Erfolgsgeschichte begründete. Und die ging so: Johann Baptist Röhrenbach, seines Zeichens Gutsverwalter auf Schloss Kirchberg, hörte mehrfach Schweizer Gäste über einen großartigen neuen Wein reden. Daraufhin recherchierte er über seine Musikvereinskollegen in der Schweiz und landete bei der Versuchsanlage von Schloss Arenenberg, wo diese neue Sorte, eine Kreuzung von Riesling und Madeleine Royal, angebaut wurde. In Deutschland verbot das Saatgutgesetz, Pflanzen oder Saatgut über die Grenze zu bringen. Also schickte Röhrenbach seinen Sohn Albert mit einem Freund im Frühjahr 1925 per Ruderboot auf Schmuggeltour über den nächtlichen See in die benachbarte Schweiz. In Arenenberg luden die jungen Männer 400 gepfropfte Setzlinge ins Boot, starteten zeitgleich mit den Bodenseefischern dort und schlichen im Frühnebel ufernah zurück nach Hause. Röhrenbachs pflanzten die Reben vor Schloss Kirchberg und schenkten 1928 den ersten Müller-Thurgau in der Schlossgaststätte aus.
Erfolgreichste Kreuzung der Welt
Heute ist die nach dem Biologen Hermann Müller-Thurgau benannte Rebsorte die meistangebaute (nach Rebfläche) und damit erfolgreichste Kreuzung der Welt. Dass der gefällige Weißwein über die Jahre etwas in Verruf geriet als Massenprodukt, ficht am Bodensee niemanden an. Hier bleibt man auf der Basis bewährter Tradition experimentierfreudig. Kellermeisterin Rebecca Röhrenbach schenkt ihren Besuchern einen prickelnden Müller-Thurgau-Secco aus und bringt Urlauber im modernen Aparthotel unter, das ihre Mutter Julia führt. Auch bei Röhrenbachs kombiniert man schon immer den Weinbau mit dem Tourismus. „Meine Großeltern schliefen im Sommer im Keller und räumten die Schlafzimmer für die Pensionsgäste, die damals für drei bis vier Wochen blieben“, schildert sie.
Bewahren will auch das Weingut Aufricht, hoch über Meersburg gelegen, mitten im Schutzgebiet. „Wenn wir im Landschaftsbild leben und wirtschaften wollen, müssen wir was dafür tun“, weiß Manfred Aufricht. Heißt konkret: Die alten Bäume pflegen, junge nachpflanzen, gießen, mähen. Auch hier wird schon in siebter Generation gewirtschaftet, mit alten Reben und moderner Gastronomie. Mit Großvaters Spezialbrand Schwarze Walnuss – mit dem selbiger seinen sterbenden Vollbluthengst kuriert haben soll – und mit den Gestaltungsideen der jüngsten Familienmitglieder. Alles hat seinen Platz und seine Berechtigung, so philosophiert der Hausherr beim Spaziergang durch die Weinberge, wo historische Raritäten, alte und neue Rebsorten einträchtig gedeihen: „Es gibt junge ungestüme Reben und alte, gelassene. Die Jugend wächst wie wild und macht Früchte und Laub und Triebe und haut alles raus. Die alte Rebe sammelt Wasser und teilt es ein, sie wächst nicht zu ungestüm und bildet nicht zu viele Trauben.“
Bodensee
Anreise
Von Stuttgart über Ulm nach Friedrichshafen, www.bahn.de .
Unterkunft
Zwischen See und Reben residiert das Appartementhaus des Weinguts Röhrenbach in Immenstaad, DZ/F ab 146 Euro, Ferienwohnung für 2-4 Personen ab 195 Euro/Nacht, www.roehrenbach.de .In einem Park am See liegt das stylische Seegut Zeppelin, bestehend aus historischer Villa und Neubauten. DZ ab 220 Euro, Frühstück 35 Euro, www.seegut-zeppelin.de .
Essen und Trinken
Fräulein Seegucker im Weingut Aufricht mit Blick auf Meersburg und den See serviert Köstlichkeiten zum eigenen Wein, https://aufricht.de/fraeulein . In der stillgelegten Bodanwerft in Kressbronn residiert das Restaurant Werft 1919. Hier speist man gepflegt und hochwertig, https://werft1919.com .
Aktivitäten
Das Vineum Bodensee in Meersburg erzählt von Geschichte und Kultur des Weines, samt Schmuggler-Sonderausstellung; www.vineum-bodensee.de .Führungen durch die Weinberge und die historischen Keller bietet der Hagnauer Winzerverein, https://hagnauer.de .
Allgemeine Informationen
Tourismus Marketing Baden-Württemberg, www.tmbw.de , Deutsche Bodensee Tourismus, www.echt-bodensee.de