Auch in den nächsten 50 Jahren, prognostiziert Volkskundlerin Annegret Braun, wird man sich zum Fest gegenseitig beschenken. Foto: www.stock-adobe.com

Die Volkskundlerin Annegret Braun sagt, warum es in einer modernen Gesellschaft eher mehr als weniger Bräuche gibt. Und warum sie selbst dann überlebensfähig sind, wenn ihr Sinn schwindet.

Stuttgart - Rituale geben Menschen in einer zunehmend hektischen Zeit ein Gefühl der Geborgenheit. Und sich an Weihnachten gegenseitig zu beschenken, freut auch die Wirtschaft. Warum sich aber manche Bräuche halten und andere nicht, weiß die Volkskundlerin Annegret Braun.

Frau Braun, was ist Ihr liebster Weihnachtsbrauch?
Der Heilige Abend mit dem vollen Programm: Gottesdienst, gutes Essen mit der ganzen Familie, mindestens drei Weihnachtslieder singen und Geschenke auspacken.
Wir leben einer kulturell gemischten Gesellschaft. Welcher Brauch taugt am ehesten als gemeinsamer Nenner?
Kein spezieller Brauch, sondern ein Bestandteil vieler Bräuche: das gemeinsame Essen. Bei den meisten Bräuchen, egal welcher Kultur, spielt es eine wichtige Rolle und verbindet die Menschen.
Warum gibt es überhaupt Bräuche?
Bräuche festigen die Gemeinschaft und vermitteln Zugehörigkeit: zu einer Kultur, zu einer Region, zu Menschen. Oft dienen sie auch der historischen Rückbesinnung. Manche Bräuche haben eine Erziehungsfunktion. An Sankt Martin steht das Teilen im Mittelpunkt. Auch der Nikolaus dient Eltern als Erziehungsmittel: Früher hat er ermahnt und belohnt, heute belohnt er nur noch. Nicht zuletzt sind Bräuche wirtschaftlich von Interesse, angefangen bei der Süßwarenindustrie. Das Oktoberfest oder der Almabtrieb im Allgäu sind Touristenmagnete.
Weihnachten bleibt schon deshalb am Leben, weil die Wirtschaft diese Gans so gewinnbringend schlachten kann?
Konsum ist für Bräuche sehr förderlich. Und von Weihnachten profitieren viele Wirtschaftszweige. Aber damit ein Brauch langlebig ist, gehört mehr dazu. Der soziale Aspekt, zusammen zu feiern, ist wichtiger.
Zusammen feiern kann man an jedem beliebigen Tag. Wird die Bedeutung von Bräuchen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht überschätzt?
Bräuche sind für jeden wichtig, sie vermitteln Vertrautheit und geben dem Leben Struktur: Das Wort Brauch kommt von brauchen. Dass Menschen durch Bräuche zusammenkommen, ist gerade in einer ausdifferenzierten Gesellschaft wichtig. Es dürfen die Bräuche nur nicht zu starr sein. Wenn jede Veränderung als Bedrohung für den Brauch gesehen wird, dann wird seine Bedeutung überbewertet.
Welche Faktoren begünstigen die Ausbreitung von Bräuchen?
Unsere Eventkultur fördert Bräuche. Wir wollen etwas erleben und feiern: Mittelalterfeste, Halloween, Vatertag. Die Globalisierung verstärkt die Sehnsucht nach Heimat oder zumindest nach etwas, das wie Heimat aussieht. Das Oktoberfest mag wie ein bayerisches Heimatfest anmuten, aber die Besucher, überwiegend in Tracht, kommen aus aller Welt.
Das klingt, als könne man Bräuchen nicht entkommen.
Die Frage ist: Will man Bräuchen überhaupt entkommen? Ihre Zahl nimmt zu, nicht ab: Alte Bräuche werden aktiviert, fremde vom Ausland übernommen, neue entstehen. Paare befestigen als Zeichen ewiger Liebe Vorhängeschlösser an Brückengeländern. Auch sonst geht es häufig um Liebe und Partnerschaft. Heute trennen sich viele Paare, gleichzeitig werden Hochzeiten immer pompöser gefeiert, beginnend beim Junggesellenabschied. Ein Brauch aus dem angloamerikanischen Raum.
Was bedeuten Bräuche für Familien?
Bräuche begleiten den Lebensweg: von der Taufe über die Schultüte bis zu Abiball und Hochzeit. Und sie schaffen Verbundenheit. Auch wenn man sonst wenig Zeit füreinander hat, an Weihnachten werden gemeinsam Plätzchen gebacken. B räuche drücken auch Wertschätzung aus, an Muttertag oder an Geburtstagen. Jeder Brauch kann allerdings auch ausufern. Wenn aus Kindergeburtstagen ein Mega-Event wird und man nur mit einem Geschenk von der Wunschliste ankommen darf, kann ein Brauch zum Zwang werden. An sich sind Bräuche heute aber nicht mehr solchen Zwängen unterworfen wie früher. Wenn man Lust hat, macht man mit, wenn nicht, dann eben nicht.
Sind Bräuche auch ohne ihren ursprünglichen Sinn überlebensfähig?
Es gibt viele Bräuche, die ihren Sinn verloren haben und trotzdem praktiziert werden. Bei der Hochzeit zum Beispiel wird oft Reis gestreut. Das ist ein Fruchtbarkeitssymbol, man wünscht dem Brautpaar viele Kinder. Wenn aber die Braut die Pille nimmt . . .?! Oder Weihnachten: Es ist ein Fest, bei dem man die Geburt Jesu feiert. Aber das wissen viele nicht mehr und feiern das Fest trotzdem. Es leben sogar sinnentleerte Bräuche wieder auf. Seit einigen Jahren lassen sich manche Bräute von ihrem Vater zum Bräutigam an den Traualtar führen. Das war früher ein Zeichen, dass die nahezu rechtlose Frau nun nicht mehr dem Vater, sondern dem Ehemann gehört. Für Frauen von heute ist dieser Brauch überholt.
Ihre Prognose: Wie wird Weihnachten hierzulande in fünfzig Jahren gefeiert?
Noch immer mit Tannengrün und Kerzen. Vielleicht hat ein täuschend echt wirkender Kunstbaum den echten Nadelbaum ersetzt. Manche werden ausgiebig kochen – in Erinnerung an die alte Tradition! Andere lassen sich das Weihnachtsessen liefern. Die Sehnsucht nach Familie wird auch in Zukunft groß sein. Weil es aber mehr Singles, Alleinstehende und Patchwork-Familien gibt, wird das Fest andere Formen annehmen. Man feiert Heiligabend nicht nur im Familienkreis, sondern vor allem mit Freunden. Für Singles gibt es organisierte Christmas-Partys. Und es wird reichlich Geschenke geben.
Zur Person: Annegret Braun, 1962 in Münsingen auf der Alb geboren, ist Volkskundlerin und Dozentin an der Universität München.