Was ist von Weihnachten geblieben außer Konsumrausch und arbeitsfreie Tage? Eine Frau fotografiert die Fassade des mit Lichterketten weihnachtlich geschmückten Einkaufszentrums Hamburger Meile. Foto: dpa

Traditionen gehören zur Natur des Menschen. Ohne sie wäre er ziel- und planlos. Doch immer mehr Riten und Rituale gehen verloren. Der traditionelle Besuch der Christmette ist nur ein Beispiel.

Freiburg/Stuttgart - Weihnachten ist das volkstümlichste aller christlichen Feste, doch seine Traditionen bröckeln wie alter Kitt. Das Christfest versinkt im Treibsand von Kitsch und Klischee, Konsum und Kommerz. Die wachsende religiöse Indifferenz und das Verdunsten des Glaubens in der Gesellschaft tun ein Übriges. So kommt es, dass viele althergebrachte und liebgewonnene weihnachtliche Traditionen aufgeweicht und bagatellisiert, verflacht und vergessen werden. Wir sprachen mit dem katholischen Theologen Stephan Wahle, Professor an der Universität Freiburg, über Sinn und Unsinn eines alten Festes in der modernen Welt.

 

„Weihnachten ist wie ein Katalysator des Lebens“

Herr Wahle, was ist vom christlichen Weihnachtsfest heute noch geblieben?

Vieles ist von der Weihnachtsidee geblieben, was man oft auf den ersten Blick gar nicht so richtig merkt. Auch wenn man dies nicht bewusst mit Religion, Gott oder Glaube in Verbindung bringt. Wo es um die Würdigung des Lebens geht, den Kern von Weihnachten, ist der christliche Glaube oft unerkannt in der privaten und öffentlichen Feier präsent.

Weihnachten ist ein Fest der Geschenke, der Familie, des guten oder weniger guten Miteinanders. Einige Menschen gehen zum Fest in die Kirche – zumindest dieses eine Mal im Jahr. Was soll daran noch christlich oder kirchlich sein?

Dort, wo die Kirche sich auf die Menschen einlässt und eine Vielfalt von Gottesdienstformen entwickelt, wird ein christliches Moment in die weltliche Weihnachtsfeier hineingetragen. Selbst wenn es nur das kurze Innehalten beim Läuten der Kirchenglocken ist. Das ist immer noch mehr als nur das Ritual an Weihnachten, das zuhause stattfindet.

Was haben die Menschen von diesem Hauch von Kirchlichkeit an Weihnachten. Wäre es nicht ehrlicher, gleich auf diese spirituelle Brise zu verzichten?

In der Feier am Heiligen Abend leuchtet durch solche Momente wie Stille oder Dankbarkeit etwas auf, das nicht auf den ersten Blick gedeutet wird als Gottesbegegnung erfahren und gedeutet. Aber es ist etwas Ungeklärtes da, was anders ist als das Alltägliche. Es geschieht in dieser kollektiven Feier und Stimmung besonderen Atmosphäre etwas, das es nur ein Mal im Jahr gibt, wo das ganze Land stille zu stehen scheint.

Wenn man den Konsumrausch einmal außer Acht lässt, ist das Weihnachtsfest die Quintessenz von vielen Traditionen und Bräuchen. Sind diese heute noch lebendig – lebendiger zumindest als das christliche Gedankengut?

Die heutigen Weihnachtsbräuche haben sich größtenteils im 19. Jahrhundert im Bürgertum aus christlichen Wurzeln entwickelt. Der Weihnachtsbaum beispielsweise hat einen christlichen Kontext. Aber wenn er zuhause steht, denkt man im Blick auf Kugeln und Lebkuchen natürlich nicht mehr an Paradiesäpfel oder Hostien. Vielleicht entdeckt man aber für sich selbst wieder neu, dass die säkulare Feier einen tieferen geistlichen Gehalt hat.

Was macht den Zauber von Weihnachten aus – diesem volkstümlichsten aller christlichen Feste?

Weihnachten ist so etwas wie ein Katalysator des Lebens. Man kann diesem Fest kaum ausweichen. Man muss sich dem Guten wie auch dem Schlechten von Weihnachten stellen. Am Heiligen Abend verdichtet sich das Themadie Erfahrung von Zeit, Leben und Tod. Es ist der entscheidende Moment im Jahresverlauf, in dem das eigene Leben komprimiert wird und man sich zurückerinnert an die eigene Kindheit. Aber auch ausblickt auf das, was noch kommen wird.

Ein Blick auf das eigene Leben . . .

. . . der in Familienritualen meist unbewusst geschieht. Wobei dieses Beisammensein auch eskalieren kann, wenn etwas an die Oberfläche kommt, was schon lange da gewesen ist.

Ist die biblische Weihnachtsgeschichte, die Wunderschönes und Grausames beinhaltet, ein Spiegelbild der Wirklichkeit?

Die Evangelisten Lukas und Matthäus machen in ihren Weihnachtsgeschichten eine politische Aussage. Die Geburt eines Kindes wird mit politischen Ereignissen in Verbindung gesetzt. Die Evangelisten kritisieren dabei die politischen Herrschaftssysteme der damaligen Zeit. Der Knabe Jesus wird im Gegensatz zu den weltlichen Herrschern Kaiser Augustus und König Herodes als der einzig wahrer Friedensstifter hervorgehoben, dessen Frieden nicht auf Krieg und Unterwerfung beruht.

Sie werden an Heiligabend Gottesdienst feiern. Stört es Sie, wenn neben Ihnen Menschen sitzen, die sonst das ganze Jahr über nie eine Kirche von innen sehen?

Nein, überhaupt nicht. Ich fände es nicht gut, wenn sie die Feier belustigend fänden oder sie aus reiner Konvention besuchten. Aber wenn jemand sich auf das einlässt, was dort geschieht, ist das ein Grund zur Weihnachtsfreude, die man feiert. Selbst wenn jemand erst das nächste Jahr wieder kommt, ist das in Ordnung. Der Gottesdienst zu Weihnachten ist ein Angebot an die Menschen, ein Dienst der Kirche, das Fest so feiern, dass es vielleicht doch hineingehoben wird in die biblische Botschaft. Wenn das auch nur ansatzweise geschieht, ist damit die Aufgabe der Kirche eigentlich auch schon getan.

Zur Person

Stephan Wahle wurde 1974 geboren und ist seit 2017 außerplanmäßiger Professor für Liturgiewissenschaft der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg und Leiter der Arbeitsstelle Liturgie, Musik und Kultur.

Derzeit ist er Lehrstuhlvertreter für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Auch seine jüngste Veröffentlichungen beschäftigt sich mit Weihnachten: „Das Fest der Menschwerdung. Weihnachten in Glaube, Kultur und Gesellschaft, Verlag Herder, Freiburg 2015.