Unter anderem auf dem Kesslerplatz trafen sich viele Menschen – verabredet oder auch nicht. Foto: /Philipp Braitinger

Der „Heilige Vormittag“ markiert in Esslingen für viele Menschen den Beginn der Weihnachtsfeiertage. Mit Besinnlichkeit hat die Veranstaltung wenig zu tun, dafür mit viel guter Laune.

Die Stimmung stimmte. In Esslingen trafen sich am Vormittag des 24. Dezember zahlreiche Besucher in der Innenstadt zum „Heiligen Vormittag“. Das Ereignis ist wohlgemerkt keine breit organisierte Veranstaltung. Man trifft sich, verabredet oder auch nicht. So ist das schon seit vielen Jahrzehnten. Der „Heilige Vormittag“ ist also bereits ein Flashmob gewesen, bevor es den Begriff überhaupt gab. Manche umschreiben ihn auch als „Frühshoppen“. Zu den Hotspots zählten in diesem Jahr der Kesslerplatz, das „Karmeliter“, der Ottilienplatz und die Ecke Kesselwasen/Wehrneckarstraße.

Zur hohen Besucherfrequenz haben vermutlich auch die frühlingshaften, teils zweistelligen Temperaturen und der Sonnenschein am Samstag beigetragen. Die geschäftstüchtigen Wirte der Stadt sind freilich längst auf die Besuchermassen eingestellt. Es wurden zusätzliche Ausschankstellen im Freien eingerichtet, sodass niemand durstig nach Hause gehen musste. Die gewöhnliche Gastronomie-Infrastruktur wäre mit dem plötzlichen Ansturm von mehreren tausend Durstigen heillos überlastet. Neben Esslingen wurde auch in Kirchheim und weiteren Orten in der Region zum „Heiligen Vormittag“ eingeladen. Es gibt Bier, Sekt und Glühwein. In den vergangenen Jahren war es bekanntlich wegen Corona nicht möglich, sich mit vielen Fremden in der Stadt zu treffen. Doch Maske und Abstandsregeln spielen inzwischen keine Rolle mehr.

Vormittags Freunde, abends Familie

Während der Heilige Abend meist im Kreise der Familie verbracht wird, sind es beim „Heiligen Vormittag“ Freunde und Bekannte, mit denen angestoßen wird. Es sind aber nicht allein die Besucher des „Heiligen Vormittages“, die am Samstag in die Esslinger Innenstadt strömten. Manch ein Kunde nutzte die letzte Gelegenheit, noch das eine oder andere Geschenk zu erwerben. In Esslingen schienen es vor allem Männer gewesen zu sein, die sehr kurzfristig vom Weihnachtstermin überrascht wurden. Mit ernster Miene im Gesicht und professionell verpackten Geschenken unterm Arm huschten sie, jeden Blickkontakt vermeidend und mutmaßlich von schlechtem Gewissen getrieben, durch die Gassen der Altstadt.

Weihnachten kann so stressig sein. Hohe Erwartungen können zu Enttäuschung und Konflikten führen. Das Ergebnis: Die Nerven liegen blank. Eine Kleinigkeit, eine falsche Bemerkung über den Baum, das Essen, das Geschenk, alles kann zur Eskalation führen. Beim „Heiligen Vormittag“ ist das ganz anders. Die Besucher dürfen sie selbst sein und für einen Moment die Anspannung der vergangenen Tage und Wochen hinter sich lassen. Wem der Coup gelungen ist, wer auf den letzten Drücker noch ein Geschenk erwerben konnte, hat sich wohl ein Gläschen verdient. Wieder mal geschafft! Doch der nächste Stresstest steht manchen Menschen erst am Abend und über die Feiertage bevor. Aber bis dahin ist es am „Heiligen Vormittag“ noch weit. Es zählt erst einmal das Hier und Jetzt.

Gelebte Nachbarschaft

Doch schickt es sich, am Heiligen Abend einen sitzen zu haben? Vermutlich schon. Andernfalls wäre es kaum zu erklären, dass der „Heilige Vormittag“ so viele Menschen seit Jahrzehnten begeistert. Es ist aber nicht allein der öffentliche Alkoholgenuss, der den „Heiligen Vormittag“ zu einer Institution gemacht hat. Es ist auch die Geselligkeit, die das Event zum Dauerbrenner macht. Und mit der Geselligkeit ist rasch der Bogen zum Weihnachtsfest gespannt. Die Feiertage werden in vielen Familien für Zusammenkünfte genutzt. Und wer an Weihnachten gewollt oder ungewollt alleine ist, kann es sich vor dem Fernseher gemütlich machen und mit Carmen Nebel und ihren Gästen bei einer besinnlichen Musikshow feiern.

Würde es die Veranstaltung nicht schon lange geben, hätte sie erfunden werden müssen. Wenn man so will, wird ein wichtiger Aspekt moderner Stadtplanung berücksichtigt: Der Quartiersgedanke, und zwar auch noch generationenübergreifend. Vielerorts wird akribisch geplant, wie man denn in den Städten wieder dahin kommt, eine lebendige Nachbarschaft zu schaffen. Beim „Heiligen Vormittag“ wird die Nachbarschaft seit Jahrzehnten gepflegt.

IIm „Posthörnle“ soll alles angefangen habe

Brauchtum
Der „Heilige Vormittag“ gehört vor allem in den Landkreisen Esslingen und Göppingen zum Brauchtum. Inzwischen werden auch in vielen weiteren Orten Veranstaltungen am Vormittag des 24. Dezember angeboten.

Geschichte
Wer den „Heiligen Vormittag“ eingeführt hat, ist zumindest aus Esslinger Sicht völlig klar. Mitte der 1960er Jahre soll es im „Posthörnle“ in der Esslinger Pliensaustraße losgegangen sein. Von dort breitete sich der „Heilige Vormittag“ über das „Einhorn“ in der Heugasse und die „Windmühle“ in der Obertorstraße in die Innenstadt aus.

Legende
Anfangs soll es das Ziel gewesen sein, vor den Feiertagen und einer Winterpause die Reste aus den Fässern zu bekommen. Deshalb soll es die Getränke gratis oder stark vergünstigt gegeben haben. Ob dies stimmt oder es sich dabei um eine Urban Legend handelt, konnte aber nicht verifiziert werden.