Krisensitzung: Die britische Regierung um Teresa May (Zweite von links) suchte am Mittwoch nach einer angemessenen Antwort auf den Kampfstoff-Angriff in Salisbury, den sie zu einem feindlichen Akt Russlands erklärt hat. Foto: AFP

Die Nervenkampfstoff-Attacke auf einen früheren britisch-russischen Doppelagenten weitet sich zur diplomatischen Krise aus. Das berührt auch deutsche Interessen, schreibt StN-Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart. - Diese Sache ist besonders unübersichtlich. Sie ist auch ausgesprochen unappetitlich. Schließlich berührt der Gift-Anschlag auf einen früheren britisch-russischen Doppelagenten und dessen Tochter im britischen Salisbury gleich mehrere Tabus guter internationaler Beziehungen.

Griff zum letzten Dreck

Dazu zählt, dass die Wahl des Nerven-Kampfstoffs Nowitschok als Tatwaffe dazu geführt hat, dass mehrere unbeteiligte Personen in ärztlicher Behandlung sind. Dass der Angriff deshalb terroristischen Charakter hat. Auch dass die Anwendung von Kampfstoffen – viele sind unsichtbar, geruchlos und bereiten einen schrecklichen Tod – zu Recht als heimtückisch und grausam gilt. Mit anderen Worten: Wer hinter dem Angriff steckt, greift gern zum letzten Dreck.

Nur, wer war’s? Politisch heikel ist, dass Nowitschok zweifelsfrei aus sowjetischen Laboren stammt. Deshalb war die britische Regierung so schnell mit dem Vorwurf bei der Hand, es habe sich um einen Angriff Russlands auf das Vereinigte Königreich gehandelt. 23 russische Diplomaten müssen ausreisen, alles Russische wird an den Landesgrenzen strenger kontrolliert, kein Mitglied der königlichen Familie wird die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland beehren. So die erste Antwort.

Ein Meisterstück russischer Taktik?

Plausibel scheint der Vorwurf allemal. Schließlich wäre ein solcher Schlag – es gab von Seiten russischer Dienste schon vergleichbare – ein Signal an die eigenen Leute: Das machen wir mit Abtrünnigen, egal wo sie gerade sind. Dieser Schlag wäre zudem ein Meisterstück jener russischen, asymmetrisch genannten Taktik, die europäische Nachbarschaft mit äußerst schmerzhaften Nadelstichen zu provozieren, auf die es nur unverhältnismäßige oder gar keine Antworten gibt. So darf sich Putin darauf verlassen, dass es niemand wegen eines untreuen russischen Agenten auf einen größeren Konflikt wird ankommen lassen.

Viel spricht auch für die Annahme, Putin wolle die antirussischen Töne, die jetzt aus dem Westen kommen, für seine Wiederwahl am Sonntag nutzen. Außerdem führt seine halb dreiste, halb gelangweilte Reaktion auf ihre Vorwürfe den Brexit-Briten vor Augen, wie klein sie sich gerade machen. Ohne EU, ohne den US-Präsidenten an ihrer Seite, dessen zwielichtige Russland-Agenda in Zweifel stellt, ob er zum Helfer gegen Putin taugt.

Russland hält dagegen

Nur, ganz von der Hand zu weisen sind auch manche Deutungen von russischer Seite nicht. Dass man kein Interesse daran haben könne, die Beziehungen zu EU und Nato noch mehr zu belasten. Dass die Vernichtung der eigenen Chemiewaffen nicht ausschließe, dass Nowitschok noch in anderen Ex-Sowjetrepubliken oder gar in der Hand Krimineller existiere.

Entscheidend ist: Alle noch so plausiblen Erklärungen ersetzen keine Beweise. Dass die britische Regierungschefin Theresa May faucht, aber erst einmal zu läppischen Strafen gegriffen hat, belegt: Das weiß sie auch. Insofern handelt sie nicht schwächlich sondern angemessen.

Bereit, die Strafen zu verschärfen

Vom Stand der Dinge und weniger von Stimmungen sollten sich auch Großbritanniens Verbündete leiten lassen. Das heißt für die Deutschen wie für die anderen EU- oder Nato-Europäer: Es braucht jetzt klare Signale, dass sie zu den Briten stehen, Brexit hin oder her. Und die Bereitschaft, Sanktionen zu verschärfen, sollte sich der Verdacht einer staatlichen russischen Urheberschaft dieses scheußlichen Verbrechens erhärten. Aber falsch wären Schnellschüsse. Insofern war bis hierhin alles richtig, was in dieser Lage nicht zuletzt aus Berlin gekommen ist.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de