Stabwechsel bei einem der größten Festzelte des Cannstatter Wasen. Nach 26 Jahren geben Dieter und Werner Klauss vom Dinkelacker-Zelt den Stab weiter an Carsten Weller.
„Ein Mal im Jahr gehe ich zelten, aber dann ganz groß“, sagt Dieter Klauss. Lacht, denkt: statt Kaffee kann man auch eine Halbe trinken und stößt mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Werner an. Aber in den Augen steht Wehmut. Dieses Jahr wird das letzte sein, in dem die beiden Brüder das Dinkelacker-Festzelt auf dem Cannstatter Wasen betreiben, dem zweitgrößten Volksfest der Welt mit mehr als vier Millionen Besuchern. Jetzt am Nachmittag hat nur eine einzige Lounge im Zelt offen, ein Gitarren- und Harmonika-Duo macht Stimmung.
Auch so eine Neuheit in den letzten knapp drei Jahrzehnten: Die Lounges, die Emporen, die riesige Bühne, die Videoleinwände. Als die Brüder vor 26 Jahren unter sechs Bewerbern als Festwirte ausgewählt wurden, gab es ein einfaches Zelt mit einer einzigen Toilettenanlage.
Viele der Veränderungen in den Cannstatter Festzelten hatte sich der Hofbräu-Festwirt Hans-Peter Grandl ausgedacht. Er schaffte etwa die Neonstrahler ab, die damals grün-grässlich die Zelte erhellten. Jetzt sorgen bei Klauss & Klauss 1200 Lampen und ein ganztägig arbeitender Elektriker für indirektes Licht. Grandl kam auf die Idee, den Wasenbesuchern die Straßenkleidung auszureden und in Lederhose und Dirndl zu stecken. Wie man das macht? Zunächst gab es Vergünstigungen für die Trachtenträger und im Jahr 2011 gelang ihm ein Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, als er 507 Mädchen im Dirndl ins Zelt lockte. „Damals wurde die Tracht als peinlich empfunden, heute ist es Kult“, sagt Werner Klauss.
Die beiden Brüder haben mit ihrem Geschäftssinn und Optimismus die Wirtschaftskrisen im Jahr 2003 und 2008 überlebt und die beiden Corona-Jahre. Das ging nur deswegen, weil die meisten Kunden ihre Reservierungen für das Zelt einfach stehen ließen und den Festwirten so das Geld nicht ausging. Den Rest musste der heimische Getränkehandel im Sindelfinger Stadtteil Maichingen erwirtschaften.
70 bis 80 Prozent an Stammpersonal beschäftigen die Brüder, wobei die Bedienungen auf eigene Rechnung schaffen. Sie schleppen in 17 Tagen etwa 170 000 Maß Bier zu den Besuchern, am Tag bis zu 1,2 Tonnen Pommes und legen dabei fünf bis zehn Kilometer zu Fuß zurück.
Keine einzige Spülmaschine darf ausfallen, sonst stapeln sich die Maßkrüge
Alle Maschinen müssen perfekt in Schuss sein: Wenn nur eine Spülmaschine ausfallen würde, dann würden sich die Krüge so schnell in der Küche stapeln, dass sich da niemand mehr bewegen könnte.
Zum Tisch kommt Klaus Bellmann, ein Mann in einem Körper stabil wie ein Fundament, aber er ist ja auch Architekt. Er betreut mehrere Festzelte auf dem Wasen und plant gerade die Änderungen für das nächste Jahr. Jetzt, wo alles steht, kann er mit den Brüdern Klauss ein Bierchen trinken, natürlich, scherzt er, kann er auch einen Tag ohne Bier auskommen, aber warum das Risiko eingehen?
Bevor das Volksfest losgeht, müssen erst einmal 1,5 Millionen Euro in Mensch und Material investiert werden. Das Zelt muss aus dem eigenen und dem gemieteten Lager nach Stuttgart transportiert und mit einer Heerschar von Handwerken unter Bellmanns Aufsicht aufgebaut werden. 200 bis 250 Bedienungen, Köche, Techniker und Wachleute werden dann zusammengetrommelt. „Ich bin der Handwerker, mein Bruder ist der Kopfwerker“, sagt Werner Klauss. Er macht also den Auf- und Abbau, Dieter, der im Wohnwagen neben dem Zelt schläft, hält den Betrieb am Laufen. Jetzt zieht er einen Plan aus der Tasche, welche Ehrengäste er heute besuchen und begrüßen will.
Die strikte Arbeitsteilung der Brüder verhindert, dass sie vom Personal gegeneinander ausgespielt werden können. Am Sonntag jedoch werden sie gemeinsam auftreten. Sie werden zum letzten Mal die Runde im Festzelt machen, die Kollegen der Nachbarzelte werden kommen, um sich zu verabschieden, mit dem Personal wird man noch ein wenig zusammen sitzen, daran denken, was man alles geschafft und überstanden hat. Dann geben sie nach 26 Jahren den Stab an den neuen Dinkelacker-Festwirt Carsten Weller weiter. Ein oder zwei Jahre werden die Brüder den neuen Wirt unterstützen, bis er weiß, wie der Hase läuft.
Über ein Leben ohne Wasen haben die Brüder wohl noch gar nicht groß nachgedacht
Vermutlich haben die beiden Brüder noch gar nicht groß darüber nachgedacht, wie ein Leben ohne den Wasen aussehen wird. Egal, sie stoßen an.
„Na ja, ein bisschen Level braucht man schon, damit man begreift, wie der Wasen funktioniert“, sagt Werner Klauss. Und dass er funktioniert, 17 Tage lang, das sieht man auch bei der 178. Ausgabe des Volksfestes, das seit 1818 mit Unterbrechungen gefeiert wird, weil in jenem Jahr nach den fürchterlichen Hungerjahren, verursacht durch eine Naturkatastrophe auf der anderen Seite der Erde, zum ersten Mal wieder die vollen Erntewagen in die Scheuern rollten.
Noch immer fahren die Kleinen im Kinderkarussel, die Jugendlichen Boxauto, die Pärchen halten verliebt im Riesenrad Händchen und 5500 Leute stehen bei Klauss & Klauss auf den Bierbänken und singen „Atemlos, durch die Nacht“ und tun dabei das, was das Schönste ist für die beiden Festwirte: Sie vergessen für ein paar Stunden den Alltag und alle ihre Sorgen.
Freude nach den Hungerjahren
Ursache
Nach dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahr 1815 verdunkelte Asche die Atmosphäre, sodass die Feldpflanzen schlecht gediehen. Es gab fürchterliche Missernten, die auf eine durch die vorausgegangenen napoleonischen Kriege ohnehin geschwächte Bevölkerung trafen.
Wirkung
Als im Jahr 1818 erstmals wieder eine normale Ernte eingefahren wurde, stifteten König Wilhelm I. und seine Frau Katharina das Volksfest auf dem Cannstatter Wasen, einer idyllischen Wiese am rechten Neckarufer.