Unverhältnismäßig, rechtswidrig: Der Polizeieinsatz im Schlossgarten vor fünf Jahren. Foto: dpa

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war der aus dem Ruder gelaufene Wasserwerfereinsatz gegen S-21-Aktivisten am 30. September 2010 nicht rechtens. So sieht es das Gericht.

Stuttgart - Nein, es gibt noch kein Urteil. Die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts (VG) Stuttgart wird ihre Entscheidung erst am kommenden Mittwoch verkünden. Wie sie ausfallen wird, scheint nach dem zweiten Prozesstag jedoch klar zu sein: Der massive Einsatz der Polizei am sogenannten Schwarzen Donnerstag gegen Stuttgart-21-Gegner im Schlossgarten, mit dem man das Baufeld für das Grundwassermanagement geräumt hat, war rechtswidrig. Das hat Vorsitzender Richter Walter Nagel unmissverständlich kundgetan – „nach vorläufiger Einschätzung der Rechtslage“ heißt das im Juristenjargon. Dass sich die Einschätzung der drei Berufs- und der zwei Laienrichter bis nächste Woche grundlegend ändert, kann ausgeschlossen werden.

So gut wie alles, was die Polizei am 30. September 2010 getan hat, um die damals nicht genehmigten Baumfällungen zu ermöglichen, war offenbar rechtswidrig. Sieben teilweise von Wasserwerferstößen schwer verletzte Demonstranten haben geklagt und wollen dies festgestellt haben. Sie stehen kurz vor einem symbolischen Sieg.

Die Polizei ging damals davon aus, dass die Ansammlung der rund 3000 S-21-Gegner keine vom Versammlungsrecht gedeckte Versammlung war. So argumentiert auch das beklagte Land. Es habe sich um eine reine Verhinderungsblockade gehandelt, um eine unfriedliche zudem. Mit einer vom Bundesverfassungsgericht als legal eingestuften, passiven Blockadeaktion habe dies nichts zu tun gehabt, so der Vertreter des Landes. Es habe aggressive Ausschreitungen gegen die Polizei gegeben. Demonstranten hätten die Gitterwagen förmlich gestürmt – mehrmals. Also habe es sich um keine Versammlung gehandelt, das Polizeirecht sei zu Recht angewendet worden.

„Blockaden können Versammlungen sein“

Die Richter sehen es – „nach vorläufiger Einschätzung“ – völlig anders. „Es spricht alles für eine Versammlung“, sagt Vorsitzender Richter Walter Nagel. Und zwar, weil ein Blockieren der Wagen mit den Absperrgittern und der Wasserwerfer ein Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung gewesen sei. „Auch Blockaden können eine Versammlung sein“, so Nagel. Zwar stuften Strafgerichte Blockaden oft als Nötigung ein. „Das stimmt so aber nicht“, stellt der Vorsitzende Richter klar.

Die Demonstration der S-21-Gegner mit ungezählten Plakaten und Transparenten habe eine hohe Symbolkraft gehabt. Zudem sei in etlichen Foren zur Friedlichkeit aufgerufen worden.

Selbst wenn sich einige Aktivisten strafbar gemacht haben sollten, ändere dies nichts am vom Grundgesetz garantierten Versammlungsrecht. Die Polizei hätte einzelne Straftäter herausnehmen müssen und vor allem: Sie hätte die Versammlung von der Stadt auflösen lassen müssen. Dies sei aber nicht geschehen, obwohl am 30. September 2010 der damalige Ordnungsamtsleiter Alfons Nastold im Schlossgarten war. Zwar entfalle das Versammlungsrecht, wenn die Aktion einen aufrührerischen Verlauf nehme, erläutert Richter Nagel. Und ja, es sei zu Pöbeleien, Beleidigungen und Rangeleien gekommen. Es seien gar Kastanien geflogen. Aber nein: „Die Versammlung war aus sich heraus nicht gewalttätig“, so Nagel. Darf nun die Polizei überhaupt nicht reagieren? Die Polizei müsse gegen kriminelles Unrecht vorgehen, dürfe aber nicht gegen die Versammlung vorgehen. Diese hätte erst, das wiederholt das Gericht mehrmals, ausdrücklich aufgelöst werden müssen.

Pfefferspray, Schlagstöcke, Wasserwerfer

Selbst die Platzverweise gegen blockierende Demonstranten über Lautsprecher seien rechtswidrig gewesen, weil das Polizeirecht bei einer Versammlung nicht greife.

Die Kammer geht – „nach vorläufiger Einsachätzung“ – noch viel weiter. Auch die Androhung und Anwendung unmittelbaren Zwangs, also Pfefferspray, Schlagstöcke und vor allem Wasserwerfer, seien rechtswidrig und unverhältnismäßig gewesen. Auf Videosequenzen sei zu sehen, wie rund 40 Polizisten rechts und links neben acht Demonstranten stehen, die unter einer Plane vom Wasserwerfer beschossen werden. Verhältnismäßiger Wasserwerfereinsatz? „Da kann man berechtigte Zweifel haben“, sagt Richter Nagel. In der Polizeidienstverordnung 122 sei der Einsatz von Wasserwerfern geregelt. Massive Wasserstöße dürfen danach nicht auf Kopfhöhe abgegeben und nur eingesetzt werden, um die Begehung von Straftaten zu verhindern, Gewalttäter zum Zurückweichen zu zwingen oder Störer am Vordringen zu hindern. Keiner dieser Fälle habe damals im Schlossgarten vorgelegen.

„Ich habe als Lehrling bei der Stadt im Alter von 15 Jahren über Verhältnismäßigkeit gelernt: Nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen“, sagt Nagel. Der Einsatz der Wasserwerfer sei unverhältnismäßig gewesen – „nach vorläufiger Einschätzung“.

Frank-Ulrich Mann, Anwalt des damals schwer an den Augen verletzten Rentners Dietrich Wagner, zeigt sich zufrieden. Sollte die Kammer wie angekündigt urteilen, komme dies einer Rehabilitierung gleich. Sein Mandant habe damals friedlich demonstriert. Da hätte er sich darauf verlassen können müssen, dass er abends als gesunder Mensch nach Hause kommt. Stattdessen sei Wagner seither fast blind.