Für Schaustellerkinder heißt Ortswechsel auch Schulwechsel. Seit diesem Jahr gibt es auf dem Stuttgarter Frühlingsfest eine Einrichtung, um schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen die Umstellung zu erleichtern.
Stuttgart - „Ist das der Mann von der Zeitung?“ bricht es aus den Kindern aufgeregt hervor, als der Redakteur den Schulungsraum der Branddirektion Stuttgart ganz in der Nähe der König-Karls-Brücke in Bad Cannstatt betritt. Dort sitzen am Mittwochvormittag 15 Kinder im schulpflichtigen Alter und widmen sich verschiedenen Lerninhalten. Das Zimmer dient den Schaustellerkindern, deren Eltern während des Stuttgarter Frühlingsfests auf dem benachbarten Cannstatter Wasen arbeiten, für die Festzeit als Unterrichtsraum.
„So etwas gab es bisher noch nie in Stuttgart“, berichtet Michael Widmann, der den Schulunterricht vor Ort organisiert hat. Als Bereichslehrer ist der Lehrer für die pädagogische Betreuung der „Kinder und Jugendlichen von beruflich Reisenden“, so die offizielle Aufgabenbezeichnung, zuständig. „Bislang“, erklärt die Lehrkraft, „wurden die Kinder in verschiedene Klassen an Stuttgarter Schulen gesteckt. Dort waren sie oftmals unerwünscht und bekamen von den Lehrern wenig Unterstützung“.
Die „schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen beruflich Reisender und aus Circusfamilien“ ist seit dem Schuljahr 1999/2000 institutionalisiert und wird vom baden-württembergischen Kultusministerium koordiniert. Acht Pädagogen sind vom gewöhnlichen Schuldienst befreit und kümmern sich stattdessen um die Kinder und Jugendlichen der Reisegewerbetreibenden.
Inspiration durch Aidlinger Schwester
Michael Widmann, der der Grundschule in Widlberg-Effringen zugeordnet ist, dort aber nicht unterrichtet, ist laut der ministeriellen Zuteilung für die schulpflichtigen Schaustellerkinder in den Landkreisen Pforzheim, Freudenstadt und Calw zuständig. „Da die Stelle für Nord-Württemberg derzeit nicht besetzt ist, kümmere ich mich auch um die Schüler beim Stuttgarter Frühlingsfest“, erklärt der Lehrer seinen Dienst in der Landeshauptstadt.
Inspiriert von einer Schwester aus dem Diakonissenmutterhaus Aidlingen, die in den vergangenen Jahren während des Volksfestes im Herbst mit einem jungen Helferteam ein tägliches Programm für die Kinder angeboten hatte, schaffte der Bereichslehrer Fakten. „Zwar ist unser Team nicht wirklich jung, doch können wir den Kindern eine Schule vor Ort garantieren“, sagt der Pädagoge stolz. Tatsächlich werden die Kinder, die während des Festbetriebs in einem der Wohnwagen hinter den Buden, Zelten und Fahrgeschäften ihrer Eltern wohnen, abwechselnd von einem fünfköpfigen Team betreut.
Neben Widmann kommt auch sein Kollege Hansjörg Lang, der als Bereichslehrer für den Landkreis Karlsruhe abgestellt ist, an mehreren Wochentagen nach Stuttgart. Auch ein Musiklehrer im Ruhestand, der die Kinder und Jugendlichen mit einer selbst gebauten Klarinette begeistert, unterstütz die Pädagogen für zwei Wochen.
Eine Idee stößt auf Skepsis
„Zu Beginn des Unterrichts fragte mich ein Kind, warum denn so viele Lehrer da seien. Ich antwortete ‚Weil ihr so viele Fragen habt!’“, erzählt Widmann. Tatsächlich sei es so, dass die Schüler, die von einer Stützpunktschule am Heimatort einen Lehrplan bekommen, große Lücken im Lernstoff offenbaren. „Mittlerweile konnten wir einiges aufholen und viele Wissenslücken bei den Kindern und Jugendlichen schließen. Das wäre bei einem Besuch der umliegenden Schulen nicht möglich gewesen“, stellt der Bereichslehrer die Vorzüge seines Programms dar.
Die betroffenen Schüler selbst zeigen sich von der neuen Maßnahme begeistert. „Diese Schule ist viel besser als an anderen Orten. Wir sind direkt neben dem Festgelände, können länger schlafen und lernen mit unseren Freunden“, berichtet Lisa, die die sechste Klasse besucht. Auch bei ihren Mitschülern, die in verschiedenen Gruppen lernen, stößt das Konzept von Bereichslehrer Widmann auf Zustimmung. „Wir können uns gegenseitig bei den Aufgaben unterstützen und haben auch noch drei Lehrer, die wir um Hilfe bitten können“, erklärt Aaron.
Dabei war es bis zum Unterrichtsstart der „Wasenschule“ ein steiniger Weg. Das Kultusministerium war nicht von Anfang an von der Idee begeistert. „Dort hat man gesagt: ‚Wir haben genügend Plätze für die Kinder und Jugendlichen in den umliegenden Stuttgarter Schulen’“, erklärt Widmann die anfängliche Skepsis des Ministeriums. Betroffene Lehrer aus anderen Bundesländern hätten ihm ebenfalls von dieser Idee abgeraten, führt der Pädagoge weiter aus.
Bereichslehrer Widmann hat eine Vision
Kaum Beachtung und Prügel für Schaustellerkinder
Doch der Erfolg und die Zustimmung der Schüler geben ihm Recht. „Hier fühlen wir uns wohl und sind mit unseren Freunden zusammen. In anderen Schulen will man uns gar nicht haben. Einmal wurden wir sogar von Mitschülern verprügelt“, berichten die Zwillinge Aaron und Maurice von ihren bisherigen Erfahrungen.
In der Regel sind die Schaustellerkinder ein halbes Jahr mit ihren Familien unterwegs und bereisen die Volksfeste und Weihnachtsmärkte Deutschlands und der umliegenden Länder. Mit dem Ortwechsel einhergehend ist der ständige Wechsel der Schule. Oft nur für wenige Tage, manchmal auch für mehrere Wochen müssen die Schüler dann in eine neue Klasse integriert werden.
Die zweite Jahreshälfte, meist im Winter und Frühling eines Jahres, verbringen die Schaustellerkinder am Heimatort und besuchen die reguläre Schule. Diese fungiert für sie als Stützpunktschule und erstellt einen individuellen Lehrplan für die Reisezeit. „Ich stehe mit meinem Klassenlehrer in ständigem Kontakt“, erzählt Timmy, der im fränkischen Ansbach die achte Realschulklasse besucht.
Bereichslehrer Widmann träumt von „Schule auf Rädern“
Auch von Klassenarbeiten sind die Schaustellerkinder in der Reisezeit nicht befreit. „Meistens faxen uns unsere Klassenlehrer an unserer Stammschule Arbeiten und Tests zu. Wir bereiten uns dann darauf vor, schreiben die Arbeit und faxen sie wieder an die Schule“, erklärt Aaron und ergänzt: „Manchmal schreiben wir auch die Klassenarbeiten und Tests in den Gastschulen, in denen wir nur wenige Tage oder Wochen sind“.
Die „Wasenschule“ öffnet ihre Tür montags bis freitags von 8 Uhr bis 12 Uhr. Insgesamt sechs Wochen – die Zeit zwischen Oster- und Pfingstferien – steht sie den Schülern für den Schulbesuch zur Verfügung und bietet eine individuelle Lernunterstützung in gewohnter Umgebung.
Bereichslehrer Widmann hält diese neue Form des Schulbesuchs für Schaustellerkinder für ein gutes Modell für die Zukunft und hat große Pläne. „Ich träume von einer Schule auf Rädern. Dann hätten wir immer einen passenden Raum und die wichtigsten Unterrichtsmaterialien dabei“, berichtet der Pädagoge von seiner Vision. „Ohne ein solches fahrendes Klassenzimmer“, führt Widmann aus, „müssen wir uns an jedem Ort neu auf die Suche nach einem geeigneten Unterrichtsraum machen.
Morgens Schulbank, mittags Kassenhäuschen
Obwohl die Kinder und Jugendlichen unter dem ständigen Schulwechsel leiden und nur mit hohem Engagement die gesteckten Lernziele erreichen, möchten sie das Leben in einer Schaustellerfamilie nicht eintauschen. „Wir lieben unser Leben als Schausteller und können uns nichts anderes vorstellen“, sagen die Schüler unisono.
„Wenn ich mit der Schule fertig bin, möchte ich eine Ausbildung machen und dann auch Schausteller werden“, erzählt Aaron, dessen Eltern mit dem Laufgeschäft „Chaos-Airport“ durch Deutschland touren. „Eine Ausbildung nach der Schule ist für mich auf jeden Fall Pflicht, um abgesichert zu sein. Ob ich danach Schausteller werden möchte, weiß ich noch nicht“, redet Timmy über seine Zukunft. Allerdings sei es für ihn nur schwer vorstellbar, immer an einem Ort zu leben.
„Wir lieben es, von Ort zu Ort zu reisen, neue Städte kennenzulernen und Freundschaften zu schließen“, sagen die Schüler, die zum Teil selbst am Nachmittag im elterlichen Betrieb mitanpacken, über die Vorzüge des Umherreisens. „Wir haben sowohl Freunde unter den Schaustellerkindern als auch an unserem Wohnort oder in anderen Orten“, schiebt Timmy, dessen Vater mit einem Kinderkarussell in Stuttgart steht, nach.
Von Akrobaten zu Schaustellern
Auch Michael Widmann kennt das Leben seiner Schüler aus eigener Erfahrung. Nach dem Studium reiste er vier Jahre mit dem „Circus Krone“ von Festplatz zu Festplatz und unterrichtete die Kinder der Akrobaten und Künstler. „Ich bekomme noch heute Briefe von meinen ehemaligen Schülern und sehe, dass die Arbeit gefruchtet hat. Sie haben einen Schulabschluss gemacht, eine Ausbildung abgeschlossen oder studiert. Natürlich sind viele auch zu weltberühmten Akrobaten und Artisten geworden“, bilanziert der Bereichslehrer zufrieden.
Danach sei er in den Schuldienst gewechselt und nach einigen Jahren für die Stelle als Bereichslehrer angefragt worden. „Die Schaustellerkinder sind genauso intelligent wie Schüler, die das ganze Jahr am selben Ort wohnen. Im Gegensatz zu diesen Kindern wissen Sie auch, dass Geld nicht vom Himmel fällt und hart erarbeitet werden muss“, erklärt Widmann Unterschiede und Gemeinsamkeiten. „Diese Schüler haben es verdient, einen für sie passenden Unterricht und eine individuell Förderung zu bekommen. So steht es sogar im Gesetz“, ergänzt der Bereichslehrer.
Dass ihm dieses Vorhaben mit der neuen Schulform am Wasengelände gelungen ist, zeigt eine Abfrage bei den Schülern. „Hier ist das Lernen viel effektiver als in den normalen Schulen“, hört man aus zahlreichen Mündern.
Damit es nicht beim Einmaleffekt bleibt, möchte der Bereichslehrer auch für das Cannstatter Volksfest, das ab dem 23. September 2016 wieder zahlreiche Schausteller mit ihren Kindern in die Landeshauptstadt führt, die individuelle Lernbegleitung anbieten. „Bisher suchen wir dafür noch Personal. Wer Freude an jungen Menschen hat, ist gerne willkommen, auch ohne pädagogische Ausbildung“, wirbt der Bereichslehrer um Helfer und fügt an: „Der Einsatz für die Kinder und Jugendlichen lohnt sich!“
In unserer Bildergalerie stellen wir Ihnen die Schaustellerkinder persönlich vor.