Was genau ist am Tatort in Köthen passiert? Welche Verletzungen erlitt das Opfer? Warum wurde einer der Verdächtigen nicht längst abgeschoben? Und warum lässt die Polizei Rechtsextremisten öffentlich von Rassenkrieg sprechen? Was wir wissen und was nicht.
Köthen - Bei einem Streit stirbt ein 22-jähriger Mann in Köthen, einer Stadt in Sachsen-Anhalt. Bei Kundgebungen nach der Tat nehmen auch zahlreiche Rechtsextremisten und Neonazis teil. Wir haben aufgeschrieben, was wir zur Lage in der Stadt bisher wissen und was nicht.
Was ist der Stand der Ermittlungen in Köthen?
Bisher gehen die Ermittler davon aus, dass „mindestens zwei Afghanen und mindestens zwei Deutsche“ an der Auseinandersetzung beteiligt waren, so die sachsen-anhaltinische Justizministerin Anne-Marie Keding. Ansonsten sind gesicherte Angaben zum Hergang der Tat bisher äußerst dürftig. Die Ermittler warnen davor, kursierende Augenzeugenberichte und Gerüchte für bare Münze zu nehmen. Keine der „diversen Sachverhaltsschilderungen in den sozialen Medien“ könne bestätigt oder dementiert werden, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Das gilt auch für Schilderungen, wonach das Opfer mehrfach gegen den Kopf getreten worden sei. Nach dem bisher lediglich telefonisch übermittelten Obduktionsbericht sei klar, dass das Opfer eine schwere Herzerkrankung gehabt habe und mit hoher Wahrscheinlichkeit einem akuten Herzinfarkt erlegen sei. „Wir haben keine Körperverletzung gefunden, die Tritte oder Schläge gegen den Schädel belegen könnten“, so die Ministerin.
Einer der beiden Tatverdächtigen sollte eigentlich abgeschoben werden – warum war er noch hier?
Wenn ein Ausländer abgeschoben werden soll, muss die Ausländerbehörde dies zuvor mit der Staatsanwaltschaft absprechen. Hintergrund: Wenn gegen einen Beschuldigten wegen einer erheblichen Straftat ermittelt wird, soll die Strafverfolgung nicht durch eine Abschiebung vereitelt werden. Dies gilt wohlgemerkt nicht für kleinere Straftaten wie beispielsweise Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Einer der Verdächtigen in diesem Fall sollte abgeschoben werden. Deshalb fragte der Landkreis Anhalt-Bitterfeld Mitte April bei der Staatsanwaltschaft nach, wie Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) sagt. Diese stoppte die geplante Abschiebung, weil zu diesem Zeitpunkt wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung ermittelt wurde. Ende August fragte der Landkreis wieder nach. Diesmal stimmte die Staatsanwaltschaft zu, weil der Fall aus Sicht der Ermittler ausreichend aufgeklärt war und so das Interesse an einer Abschiebung als wichtiger eingeschätzt wurde. Die Zustimmung kam zwei Tage vor der tödlichen Auseinandersetzung von Köthen. „Es geht eben nicht jeden Tag ein Flieger nach Afghanistan“, sagt der Innenminister. Der zweite Tatverdächtige in dem Fall hat eine gültige Aufenthaltserlaubnis, die er bei einer Verurteilung verlieren könnte. Nach der Tat jetzt und den laufenden Ermittlungen wird bis zur Aufklärung des Falls keine Abschiebung möglich sein.
Wer war an der Demonstration am Sonntagabend beteiligt?
Zu dem „Trauermarsch“ am Abend, zu dem zahlreiche Rechtsextremisten und Neonazis mobilisiert hatten, kamen laut Innenministerium 2500 Personen, davon etwa 400 bis 500 Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum sowohl aus Sachsen-Anhalt als auch aus Thüringen und Niedersachsen. Ein erheblicher Teil seien Köthener Bürger gewesen, die ihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen wollten, so Stahlknecht. Er wandte sich dagegen, „diese unter Generalverdacht zu stellen, weil das die Bevölkerung abkoppelt“. Einige dieser Bürger hätten dann auch den rechtsextremen Parolen applaudiert, die gerufen worden seien. Es habe aber auch Widerspruch gegeben. Stahlknecht rief die „besonnenen Bürger“ auf, bei Versammlungen deutlich zu machen, dass sie sich von rechtsextremistischen Parolen abgrenzten.
Was wurde bei der Demonstration gerufen und warum schritt die Polizei nicht ein?
Auf mehreren Videos ist dokumentiert, was im Rahmen des so genannten „Trauermarsches“ gerufen und gesagt wurde. Dazu gehört eine Gruppe von Demonstranten, die skandierte: „Nationaler Sozialismus! Jetzt!“. Das klingt fast wie „Nationalsozialismus“ – aber eben nur fast. Die Parole ist strafrechtlich nicht relevant und wird bei Neonazidemonstrationen immer wieder gerufen, zum Beispiel beim so genannten Gedenkmarsch für den NS-Kriegsverbrecher Rudolf Heß in Berlin-Spandau. An anderer Stelle sprach der einschlägig vorbestrafte Thügida-Chef David Köckert am „offenen Mikrofon“ nahe dem Tatort von „antideutscher Schweinepresse“, beleidigte die Polizei als „charakterlose Söldner“ und schlug auch Rache an „denjenigen“ vor „die uns das zugemutet haben“, und zwar „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Er drohte: „Wenn wir noch einmal die Macht bekommen, dann werden diese Flitzpiepen sich im dunklen Kellerverließ wiederfinden“, sprach vom „Rassenkrieg gegen das deutsche Volk“ und fragte: „Wollt Ihr weiterhin die Schafe bleiben, die blöken, oder wollt Ihr zu Wölfen werden und sie zerfetzen?“
Die Polizei verfolgte die Aussagen vor Ort genau, griff aber nicht ein. Es sei eine schwierige Abwägung, in eine Versammlung einzugreifen, sagte die im Innenministerium verantwortliche Referentin Christine Bergmann. Der mögliche Straftatbestand der Volksverhetzung sei nicht einfach nachzuweisen – eine Versammlung, bei der 2000 Menschen zusammengekommen seien, zu unterbinden, schädige alle anderen, die von ihrem Grundrecht Gebrauch machten, ebenfalls. „Der Nachweis der Strafbarkeit geht eher im Nachhinein.“ Der Staatsschutz werte derzeit die Aussagen aus.
Auf dem politischen Parkett allerdings herrschte Empörung über die Aussagen. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), teilte den zugehörigen Videoschnipsel und kommentierte: „Wer sich so äußert, hat den Boden unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung verlassen.“ Wer sich damit gemein mache, habe kein Verständnis verdient. Der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, sagte am Montag in Berlin: „Dass es am Ende des Tages in Köthen zu offenen nationalsozialistischen Sprechchören gekommen ist, auch das muss uns betroffen machen und empören.“
Erwartet die Köthener eine unruhige Woche?
Auch für den Montagabend war wieder ein Trauermarsch angemeldet, diesmal war der Anmelder ein AfD-Abgeordneter. Das Innenministerium rechnete auch mit einer größeren Demonstration in Halle. Der Bürgermeister von Köthen, Kurt-Jürgen Zander erklärte, in seiner Stadt fänden sich verschiedene Akteure zu einem runden Tisch zusammen um die Situation besonnen zu bewältigen.
Erst mit mehr als einer Woche Verspätung erfuhr man davon, dass bei den Aufmärschen in Chemnitz ein jüdisches Restaurant attackiert wurde. Wieso dieses Schweigen?
Die Polizei hat nicht aus eigenem Antrieb über eine offenkundig antisemitische Attacke berichtet, die am 27. August während des rechten Aufmarsches in Chemnitz passiert sein soll. Es ist nicht zu beantworten, ob hier etwas bewusst verschwiegen wurde, ob die Behörden überfordert oder politisch unsensibel waren. Zuerst berichtete die „Freie Presse Chemnitz“ von der Anzeige, die der Besitzer des Restaurants „Schalom“ erstattet hatte. Sein Restaurant sei von einem Dutzend Vermummten mit Steinen und Eisenstangen angegriffen, er selbst an der Schulter verletzt worden, es sei gerufen worden: „Hau ab aus Deutschland, du Judensau“. Das Jüdische Forum für Demokratie verweist auf Fotos von den Schäden am Gebäude.
Auch 14 Tage nach dem Vorfall kann man bei der Polizei Chemnitz nicht ad hoc erklären, weshalb das so war. Die Pressestelle bat um eine schriftliche Anfrage, die bisher noch nicht beantwortet ist. Bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden verweist ein Sprecher auf die Vielzahl der Ereignisse. Unterdessen schlägt der Fall durchaus Wellen. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, forderte die Behörden auf, unverzüglich zu ermitteln.