Bisher ist umstritten, was das menschliche Bewusstsein wirklich ist, wo und wie es entsteht. Jetzt gibt es neue Erkenntnisse.
Außer im Film, in der Literatur und im Naturschutz hat die Fledermaus auch zu bedeutenden wissenschaftlichen Debatten geführt. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagels löste im Jahr 1974 mit seinem Aufsatz „What is it like to be a bat?“ („Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“) eine Debatte über den Wissensanspruch der Naturwissenschaften aus.
Eines der größten Rätsel der Natur
Tenor seiner bahnbrechenden Publikation: Egal wie viel Menschen über das Gehirn anderer Lebewesen sowie ihre Erfahrungen – zum Beispiel über das einer Fledermaus –, so können wir doch nie deren Erlebnisperspektive erschließen.
Auch wenn man sich vorstellen kann, wie es ist, tagsüber mit dem Kopf nach unten zu hängen und nachts auf Insektenjagd zu gehen, werden wir nie wissen, wie das für das fliegende Säugetier ist.
Und damit sind wir auch schon beim Thema Bewusstsein, das zu den rätselhaftesten Phänomen nicht nur des Menschen gehört. Inzwischen gehen viele Forscher davon aus, dass auch Tiere über eine Art grundlegendes Selbstbewusstsein verfügen, was sich in ihren Verhaltensweisen und Entscheidungsfindungen zeigt.
Was ist Bewusstsein?
Tierisches Selbstbewusstsein ist aber nicht identisch mit menschlichem Bewusstsein – also der Fähigkeit zur Wahrnehmung des eigenen Ichs. Diese Selbsterkenntnis als eigenständiges Individuum ist das wesentliche Merkmal, das den Homo sapiens, mit Ausnahme einiger Menschenaffen, von allen anderen Tieren unterscheidet.
Forscher sind bis zur neuralen und damit materiellen Grundlage des Bewusstseins vorgedrungen. Sie versuchen die mentalen, das heißt geistigen, verstandesmäßigen – Prozesse der Empfindung (primärer Sinneseindruck), der Wahrnehmung (Informationsgewinnung und innere Abbildung = Perzeption) sowie des Erlebens (emotionale und kognitive Reaktion = Apperzeption) zu verstehen.
Neurophysiologisch gesehen, entsteht bewusste Wahrnehmung in dem Augenblick, in dem das Gehirn eintreffende Reize registriert, sie verarbeitet und erfahrbar macht. Zusammen mit Erinnerungen und Gefühlen bildet dieser kognitive Prozess die Basis für die innere Erfahrungs- und Gedankenwelt des Menschen. Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen, Biologen und Neurologen zu ergründen, wo und wie Bewusstsein entsteht. Wie also das Gehirn unsere innere Welt erschafft.
Zwei prominenten Bewusstseinstheorien auf dem Prüfstand
Nun hat ein internationales Forschungskonsortium Cogitate unter Leitung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main zwei der derzeit prominentesten Bewusstseinstheorien auf den Prüfstand gestellt.
Die im Fachmagazin „Nature“ veröffentlichten Ergebnisse stellen Kernannahmen beider Modelle in Frage und bieten gleichzeitig einen neuen Ansatz zur Untersuchung komplexer wissenschaftlicher Fragestellungen.
„Die Suche hat zu verschiedenen Theorien des Bewusstseins geführt, die sich parallel entwickelt haben und sich in Bezug auf ihre Interpretation der neuronalen Basis oft widersprechen“, erklären die Forscher.
Theorien anhand von drei Kernmerkmalen mit drei Methoden überprüft
In der Studie werden die beiden führenden Bewusstseinstheorien anhand von jeweils drei Kernmerkmalen, mit drei verschiedenen Methoden und durch Vertreter beider Theorien überprüft. „Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass wir unsere Theorien gemeinsam testen“, erklärt Lucia Melloni vom MPIEA.
Durchgeführt wurden die Tests mit insgesamt 256 Testpersonen in sieben Laboren weltweit. Die unabhängigen Teams nutzten dafür drei sich ergänzende bildgebende Verfahren:
funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI)
Magnetenzephalografie (MEG)
Hirnstrommessungen mittels intrakraniellem EEG (iEEG)
Die Tests bestanden im Wesentlichen darin, dass die Teilnehmer verschiedene Gesichter und Objekte sahen, die sie nach ihrer Ausrichtung, Kategorie oder Übereinstimmung einordnen sollten.
Bewusstseinstheorien: GNWT und IIT
Die Tests und Analysen waren so gewählt, dass sie drei Kernvorhersagen der beiden überprüften Bewusstseinstheorien – der Global Neuronal Workspace Theory (GNWT, Theorie der ursprünglichen globalen Arbeitsraumtheorie) und der I ntegrated Information Theory ( IIT , Integrierte Informationstheorie) – entweder bestätigen oder widerlegen.
GNWT: Die Global Neuronal Workspace Information Theory Theory wurde von dem amerikanischen kognitiven Psychologen Bernard Baars entwickelt. Sie versucht zu erklären, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und wie wir uns dessen bewusst werden. Baars stellt sich das Gehirn als eine Art „Theater“ vor, in dem viele verschiedene Prozesse gleichzeitig ablaufen. Einige dieser Prozesse sind bewusst, während andere unbewusst sind.
IIT: Diese von dem italienischen Psychiater und Neurowissenschaftler Giulio Tononi entwickelte Integrated Information Theory davon aus, dass Bewusstsein dann entsteht, wenn ausreichend integrierte Informationen vorliegen.
1. Test: Welche Rolle spielt der präfrontale Cortex?
„Die erste Vorhersage betrifft die Regionen des präfrontalen Cortex, die die bewussten Informationen enthalten“, erklären die Forscher.
Zur Info: Der präfrontale Cortex (PFC) ist Teil der größten Hirnstruktur des Menschen, dem Stirn– oder Frontallappen Frontallappens der Großhirnrinde. Der PFC gilt als Sitz der Persönlichkeit und wird im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, Nachdenken, Entscheidung und Planung genannt:
Laut GNWT ist für unser Bewusstsein der präfrontale Cortex, der hinter unserer Stirn liegende Hirnbereich, unverzichtbar. Er muss demnach bei bewusster Wahrnehmung aktiv sein.
Die IIT sieht dies anders: Bewusste Wahrnehmung entsteht, indem sich die für die Reizverarbeitung zuständigen primären und sekundären Areale im Hinterkopf miteinander synchronisieren. Eine Mitwirkung des präfrontalen Cortex ist demnach nicht nötig.
Fazit: Für dieses Kriterium zeigte sich: „Obwohl wir bei der Kategorie-Einstufung Aktivität im präfrontalen Cortex fanden, war dies beim Erkennen der Identität nicht der Fall, beim Ausrichtungstest nur im MEG“, schreiben die Experten. „Dies wirft die Frage auf, ob der präfrontale Cortex tatsächlich an der Übermittlung aller bewussten Inhalte beteiligt ist oder von nur einer Untergruppe – beispielsweise abstrakten Konzepte und Kategorien. Bei Letzterem müsste die Rolle des präfrontalen Cortex für das Bewusstsein redefiniert werden.“
2. Test: Braucht es Zündfunken oder Dauerfeuer?
Die zweite These betrifft die Art der Hirnaktivität während der bewussten Wahrnehmung:
„Der IIT zufolge bleibt das Bewusstseins-Netzwerk im hinteren Cortex über die gesamte Dauer der bewussten Erfahrung aktiv“, erklären die Forscher.
Die GNWT hingegen sagt einen „Zündfunken“ zu Beginn der bewussten Bearbeitung voraus – quasi ein kurzer Aktivitätsschub, durch den das Arbeitsgedächtnis auf den neuesten Stand gebracht wird. „Dann sinkt die Aktivität wieder auf Grundniveau ab, bis eine andere ‚Zündung‘ den Beginn einer neuen Wahrnehmung kennzeichnet.“
Fazit: „Keine der 655 Elektroden registrierte das von der GNWT vorhergesagte zeitliche Profil“, berichten die Wissenschaftler. Demnach fehlte der für diese Bewusstseinstheorie kennzeichnende „Zündfunke“ samt anschließendem Aktivitätsabfall. Dafür zeigte sich im Hinterkopf eine anhaltende Aktivität, wie von der IIT postuliert. Damit passen diese Beobachtungsdaten besser zur IIT als zur GNWT. Allerdings zeigte sich dies nur im iEEG.
3. Test: Wie ausgedehnt ist die neuronale Vernetzung?
Der dritte Unterschied der beiden Bewusstseinstheorien betrifft Lage und Umfang der beteiligten Netzwerke.
Die GNWT geht davon aus, dass Bewusstsein durch eine hirnweite Vernetzung entsteht.
Die IIT postuliert hingegen, dass schon eine kleinräumige Synchronisation der primären und sekundären Sinnesareale im Hinterkopf das bewusste Empfinden hervorruft.
Fazit: Die iEEG-Messungen stellten zwar eine kurzzeitige Synchronisierung der primären und sekundären visuellen Areale im Hinterkopf, diese Vernetzung hielt aber nicht an. Dafür zeichneten die Elektroden eine weitreichende Verbindung vom präfrontalen Cortex bis in die Sinnesareale auf. Die Daten des MEG und fMRT dagegen zeigten weder eine hirnweite Vernetzung, noch eine stabile Verbindung nur der Sinneszentren. Stattdessen lag die Ausdehnung der vernetzten Hirnbereiche dazwischen.
GNWT oder IIT: Wer ist der Testsieger?
Nach Ansicht der Neurowissenschaftler haben die drei Tests damit keine der beiden Bewusstseinstheorien klar bewiesen. Stattdessen stellen die Ergebnisse beide Theorien in Frage:
Für die GNWT fehlt der „Zündfunke“.Zudem scheint der präfrontale Cortex nur an einigen Unteraspekten des Bewusstseins beteiligt.
Bei der IIT fehlt der Nachweis einer anhaltenden Synchronisation der Sinnesareale im Hinterkopf.
Fazit: „Die Ergebnisse erinnern uns eindringlich daran, dass selbst unsere etabliertesten Überzeugungen einer strengen Überprüfung bedürfen“, erklärt Lucia Melloni. „Wenn wir das Bewusstsein wirklich verstehen wollen, dürfen wir uns nur von den Daten leiten lassen.“
„Es gibt mehr als zwanzig Theorien über das Bewusstsein. Wir haben zwei davon getestet“, betont Koautor Alex Lepauvre vom MPIEA. „Jetzt laden wir andere dazu ein, diesen umfangreichen Datensatz zu nutzen und dazu beizutragen, das Forschungsgebiet weiter voranzubringen.“
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