Ohne Lehrerinnen und Lehrer im Ruhestand, die als Krankheitsvertretung und in Mangelfächern einspringen, hätten vor allem Grundschulen im Kreis Esslingen ein ernstes Problem. Von Schülern und Eltern werden die Senior-Lehrkräfte hoch geschätzt.
Gelegentlich wird Sigrid Altherr-König morgens um sieben aus dem Bett geklingelt. Am Telefon ist der Konrektor der Esslinger Pliensauschule. Um 7.45 Uhr beginnt der Unterricht. Sigrid Altherr-König sputet sich. Ganz pünktlich zur ersten Stunde wird sie es nicht schaffen. Aber sie weiß: Es ist mal wieder Not an der Frau. Eine Kollegin ist krank geworden. Die pensionierte Lehrerin springt ein. Immer wenn ihre ehemalige Grundschule sie braucht. Warum sie sich das antut mit ihren 71 Jahren?
Also erstens kann von „antun“ keine Rede sein. Altherr-König ist Pädagogin aus Leidenschaft. Auch im Ruhestand. Und zweitens gibt es sehr wohl Gründe für ihren Einsatz. Nämlich: „Ich sehe die Probleme der Schule, der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen. Wenn eine oder gar mehrere Kolleginnen krank werden, ist das oft eine mittlere Katastrophe.“ Das lässt sie nicht kalt, vor allem nicht im Interesse der Kinder. „Der Lehrermangel an den Grundschulen“, sagt sie, „ist nach wie vor gravierend. Personalreserven gibt es kaum, das ist alles auf Kante genäht.“
Altherr-König nennt aber auch den anderen, schlichteren Grund: „Ich brauche das Geld.“ Ihr Stundenkontingent pro Jahr ist gedeckelt, geregelte Arbeitszeiten hat sie als Einspringerin nicht. Wenn es ihr überhaupt nicht reinpasst, kann sie die kurzfristige Dienstanfrage auch mal ablehnen.
Sigrid Altherr-König ist eine von derzeit 37 pensionierten Lehrerinnen und Lehrern, die an Grund-, Werkreal-, Real-, Gemeinschafts- und Sonderschulen im Kreis Esslingen mehr oder weniger regelmäßig unterrichten. „Der Zeiteinsatz ist vollkommen unterschiedlich“, sagt Corina Schimitzek, die Direktorin des Staatlichen Schulamts Nürtingen. Manche beschränken ihr Berufsleben im Ruhestand auf einzelne Stunden, andere haben einen Vertrag mit höheren Deputaten und festen Unterrichtszeiten. „Die Pensionäre sind wichtig nicht nur als Krankheitsvertretung, sondern vor allem im Bereich einzelner Mangelfächer“, erklärt Schimitzek. Allerdings ändere sich der Mangel von Jahr zu Jahr.
Keine Pensionäre in Esslinger Gymnasien
Laut Matthias Schneider, Pressesprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Baden-Württemberg, herrscht in Grundschulen und in der Sonderpädagogik ein genereller Lehrkräftemangel; in den Gymnasien nur in den Naturwissenschaften und vor allem in Informatik, „weil da das Einkommen in der Wirtschaft deutlich höher ist“. Zumindest an den Esslinger Gymnasien, berichtet der Schelztor-Rektor und geschäftsführende Schulleiter Jörg Leihenseder, unterrichteten derzeit jedoch keine Pensionärinnen und Pensionäre.
In der übrigen pädagogischen Provinz würden etliche Lücken klaffen ohne die unterrichtenden Unruheständler. Also sind sie bloße Lückenbüßer, also wird mit ihnen ein struktureller Mangel kaschiert? Ganz so scharf will das auch GEW-Mann Schneider nicht sehen. Zu Zeiten, als sich das Land strikt weigerte, neue Lehrerinnen und Lehrer einzustellen, habe die Gewerkschaft Front gemacht gegen die Weiterbeschäftigung von Pensionären. Das habe sich geändert, und damit auch die Haltung der GEW. Angesichts des aktuellen Fachkräftemangels unterstütze man es, wenn die Kinder „von einer fitten, berufserfahrenen Lehrerin unterrichtet“ statt nur irgendwie verwahrt werden; und wenn die Senior-Lehrkräfte „in ihrem Beruf gern noch etwas weitermachen möchten“.
Allerdings bleibe ein Zwiespalt, den auch Sigrid Altherr-König sieht: „Wir können kein Ersatz dafür sein, dass mehr Grundschullehrerinnen und -lehrer eingestellt und besser bezahlt werden. Und dass eine Personalreserve für Krankheit, Schwangerschaft und Elternzeit aufgebaut wird.“ Schneider fügt hinzu, der Einsatz von „aktuell mehreren hundert Pensionären in Baden-Württemberg“ dürfe nicht zu einer „Dauerlösung des Lehrkräftemangels“ werden.
Identifikation mit der „eigenen“ Schule
In der Regel werden Pensionärinnen und Pensionäre von ihren Stammschulen angefragt, ob sie bereit sind, im Ruhestand noch etwas weiterzumachen. „Die Identifikation mit der ,eigenen’ Schule ist ein wesentlicher Motivationsfaktor“, weiß Schneider. So war es auch vor sechs Jahren bei Sigrid Altherr-König, als sie in den Ruhestand ging. Wenn sie jetzt vor einer Klasse steht, kommt ihr ihre Erfahrung zugute: „Ich habe fast alle Grundschulfächer unterrichtet und kann mich schnell in eine Situation hineinfinden.“ Und wie kommt sie bei den Kindern an? „Sehr gut. Ich habe einen Oma-Bonus.“ An der Pliensauschule mit ihrem hohen migrantischen Schüleranteil seien die Kinder sehr wissbegierig. „Die freuen sich, wenn man richtigen Unterricht macht. Wir sind eine verlässliche Grundschule“ – also mit quasi garantierten zuverlässigen Schulzeiten. „Da kommt es darauf an, die Kinder nicht nur zu verwahren.
„Hervorragender Unterricht“ – mit 82 Jahren
Generell sei die Akzeptanz unterrichtender Ruheständler bei Kollegen, Schülern und Eltern hoch, bestätigen Schneider und Schulamtsdirektorin Schimitzek. „Die Pensionäre wissen selbst am besten, ob sie noch auf der Höhe ihren Fachs sind und ob sie die Schüler noch erreichen“, sagt Schneider. „Manche sagen: Jetzt reicht’s. Aber ich weiß von einer 82-Jährigen, die hervorragenden Unterricht macht.“
Vertrag und Handschlag
Dringendes Interesse
Angesichts des Lehrkräftemangels können pensionierte Lehrerinnen und Lehrer bis zum 75. Lebensjahr an Schulen tätig werden. Vorliegen muss ein sogenanntes dringendes dienstliches Interesse, also Personalbedarf zur Beschulung von Kindern und Jugendlichen, der anderweitig nicht gedeckt werden kann. Die Pensionäre arbeiten in diesem Fall auf Vertragsbasis, ihr Einkommen wird nicht auf das Ruhegehalt angerechnet.
Vertretung
Für kurzfristige Vertretungen können Schulleitungen mit pensionierten Lehrkräften per Handschlag Vereinbarungen abschließen. Bis maximal 103 Unterrichtsstunden im Kalenderjahr müssen die Einnahmen aus dieser Tätigkeit nicht versteuert werden.