Ein Haitianer zeigt Patronenhülsen, die er Tage nach einem bewaffneten Bandenangriff in der Nähe seines Hauses eingesammelt hat. Foto: dpa/AP/Odelyn Joseph

Haiti kommt nicht zur Ruhe. Wieder wird eine grausige Bluttat gemeldet. Opfer sollen Voodoo-Anhänger gewesen sein.

Eine bewaffnete Bande hat in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince laut Menschenrechtsorganisationen und Medienberichten mehr als 100 Menschen ermordet.

 

Blutbad im berüchtigten Cité Soleil

Cité Soleil (Haitianisch-Kreolisch Site Soley, deutsch: Sonnenstadt) ist ein sehr dicht bevölkertes Elendsviertel im Arrondissement Port-au-Prince, Haiti. Sie liegt zwischen dem Hafen und weiteren Elendsvierteln. Dieser Slum gehört zu den größten in der westlichen Hemisphäre. Foto: Imago/Agencia EFE
Die geschätzten 200.000 bis 400.000 Menschen leben hier in extremer Armut auf einer Fläche von 5 Quadratkilometern. Foto: Imago/VWPics
Es gibt keine stabilen sozialen Systeme. Gewalt und Bandenwesen[3] bestimmen die soziale Atmosphäre. 90 Prozent der Bewohner sind arbeitslos. Menschen und Tiere versuchen die riesigen Müllhalden als ihre Lebensressource zu nutzen. Foto: Imago/Agencia EFE

Laut einer Mitteilung der Organisation Komitee für Frieden und Entwicklung (CPD) handelte es sich um den Racheakt eines Bandenbosses. Dieser habe Anhänger des Voodoo-Kultes für den Tod seines Sohnes verantwortlich gemacht. Die „New York Times“ berichtete, dass ihr das Massaker von einem Bewohner vor Ort bestätigt wurde.

Das Blutbad ereignete sich der Mitteilung zufolge am Freitag (6. Dezember) und Samstag (7. Dezember) in Wharf Jeremie, einem Teil von Cité Soleil, dem berüchtigtsten Armenviertel der Hauptstadt des Karibikstaates. Die Mehrzahl der Opfer seien Frauen und Männer von über 60 Jahren, deren Leichname verstümmelt und auf offener Straße verbrannt worden seien.

Ein Land im Todeskampf

Haiti, das sich mit der Dominikanischen Republik die Karibikinsel Hispaniola teilt, ist das ärmste Land des amerikanischen Kontinents. Seit Jahren leidet es unter der Gewalt schwer bewaffneter Banden, die die Hauptstadt größtenteils unter ihrer Kontrolle haben.

Aus Kenia als Teil einer multinationalen Schutztruppe entsandte Polizisten haben bisher wenig ausrichten können. Im November wurden in Port-au-Prince sogar zwei Passagierflugzeuge von US-Fluglinien angeschossen.

Ein Anwohner trägt Reifen, die zu einer brennenden Barrikade hinzugefügt werden sollen, um Bandenmitglieder davon abzuhalten, in sein Viertel einzudringen. Foto: AP/Odelyn Joseph/dpa
Ein Bandenmitglied steht bewaffnet auf einem Friedhof in Port-au-Prince. Foto: Imago/ZumaPress Wire
Schwer bewaffnete Polizisten liefern sich hinter einer Brüstung verschanzt ein Schussgefecht mit Bandenmitgliedern. Foto: Imago/ZumaPress Wire
Bewohner fliehen aus ihren Häusern, um der Bandengewalt im Viertel Nazon in Port-au-Prince zu entkommen. Foto: AP/Odelyn Joseph/dpa
Polizeibeamte kontrollieren in Petion-Ville nach Waffen. Schwer bewaffnete Banden versuchen seit Tagen, mehr Stadtteile in Port-au-Prince unter ihrer Kontrolle zu bringen. Foto: AP/Odelyn Joseph/dpa
Eine Frau filmt eine Szene, in der die Leichen von mutmaßlichen Bandenmitgliedern, die von Anwohnern angezündet wurden, auf einem Haufen mitten auf einer Straße im Stadtteil Pétion-Ville. Foto: AP/Odelyn Joseph/dpa

Haiti versinkt in einem Strom aus Leid, Schmerz und Tränen. Die staatlichen Strukturen sind nur noch rudimentär vorhanden. Auf den Straßen tobt ein Kampf ums nackte Überleben. Ein Land in Agonie.

Haiti ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein fruchtbares, reiches Land in Grund und Boden gewirtschaftet werden kann. Seit der Unabhängigkeit 1804 ist Haiti politisch instabil, wurde zur Beute räuberischer Diktatoren. Es ist eine ökologische Wüste: Die Böden sind ausgelaugt, die Wälder abgeholzt, die Wirtschaft ruiniert.

Voodoo-Anhänger sollen Sohn von Bandenboss „verhext“ haben

Den Informationen zufolge sei zuvor ein Sohn des Bandenbosses Monel Felix, alias Micanord, an einer geheimnisvollen Krankheit gestorben. Der Bandenboss habe daraufhin die Menschen in dem Viertel beschuldigt, seinen Sohn verhext zu haben, und entschieden, alle älteren Menschen und Voodoo-Anhänger dafür zu bestrafen.

Der Voodoo-Kult, der seine Ursprünge in Westafrika hat, ist in Haiti eine anerkannte Religion. Im zwar christianisierten, aber immer noch von heidnischen Bräuchen durchtränkten Leben der Haitianer besitzen Voodoo-Hexer und Priesterinnen die geheimnisvolle Fähigkeit, Lebende mit einem Fluch zu belegen, so dass sie scheintot sind.

Der französische Ethnologe Michel Leiris beschreibt diese Wiedergänger in seinem Buch „L’Afrique Fantôme“ („Phantom Afrika“, 1934) als „Individuen, die man künstlich in einen Scheintodzustand versetzt, beerdigt, dann wieder ausgegraben und geweckt hat und die infolgedessen folgsam wie Lasttiere sind, da sie ja gutgläubig annehmen müssen, dass sie tot sind“. Foto: Imago/ZumaPress Wire
Im zwar christianisierten, aber immer noch von heidnischen Bräuchen durchtränkten Leben der Haitianer besitzen Voodoo-Hexer und Priesterinnen die geheimnisvolle Fähigkeit, Lebende mit einem Fluch zu belegen, so dass sie scheintot sind. Foto: Imago/ZumaPress Wire

Wo der Glaube an Hexerei besonders verbreitet ist

Dass es Hexen gibt, die mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten anderen Schaden zufügen können, daran glaubt eine überraschend große Zahl der Menschen weltweit. 40 Prozent der Bevölkerung in 95 Ländern sind davon überzeugt, wie eine vom Wirtschaftswissenschaftler Boris Gershman von der American University in Washington im Fachmagazin „PLOS One“ veröffentlichte Studie zeigt.

Demnach ist der Glaube an Hexerei besonders stark in Staaten mit schwachen Institutionen und konformistischen Kulturen verbreitet, wo es Misstrauen und Angst verbreitet.

Die regionalen Unterschiede sind dabei sehr groß. So erklärten beispielsweise nur 9 Prozent der Befragten in Schweden, an Hexerei zu glauben, während es in Tunesien 90 Prozent waren. Hohe Werte zeigten sich auch in Marokko, Tansania und Kamerun. In Deutschland lag der Prozentsatz bei etwa 13 Prozent und damit vergleichsweise niedrig.

Voodoo-Priesterin auf Haiti. Foto: Imago/ZumaPress Wire

UN-Resolution gegen Hexenwahn

Diese Wahnideen ist also beileibe kein Phänomen des Mittelalters: Auch heute noch werden vielerorts vor allem Frauen und Menschen mit Albinismus aufgrund vermeintlicher magischer Fähigkeiten angegriffen und umgebracht. Die Verfolgung ist so gravierend, dass der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 2021 sogar eine Resolution veröffentlichte, die zur Verurteilung entsprechender verletzender Praktiken und Angriffe auffordert.

Ein Manbo – Voodoo-Priesterin – bei einem Voodoo-Ritual. Foto: imago stock&people/David Zentz

Glaube an Hexerei ist Teil der globalen Kultur

Allerdings fehlten bislang statistische Analysen auf globaler Ebene, die zeigen, wie weit der Hexereiglaube verbreitet ist. „In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch unter Wirtschaftswissenschaftlern die Erkenntnis durchgesetzt, dass es wichtig ist, die Kultur und ihre Verbindung zum wirtschaftlichen Verhalten zu verstehen“, erklärt Boris Gershman. Und der Glaube an Hexerei sei ein wichtiger Teil der Kultur auf der ganzen Welt.

Gershman stellte einen Datensatz zusammen, der mehr als 140.000 Menschen aus 95 Ländern und Regionen umfasst. Er basiert auf zwischen 2008 und 2017 durchgeführten Umfragen. Darin gaben über 40 Prozent der Befragten an, dass sie glauben, dass „bestimmte Menschen Flüche oder Zaubersprüche aussprechen können, die dazu führen, dass jemandem Schlimmes widerfährt“.

Voodoo-Anhänger. Foto: Imago/ZumaPress Wire

Welche Faktoren den Hexenglaube bestimmen

Boris Gershman hat beobachtet, dass der Hexereiglaube zwar in allen soziodemografischen Gruppen verbreitet, bei Menschen mit höherem Bildungsniveau und größerer ökonomischer Sicherheit allerdings weniger wahrscheinlich ist. Auf Länderebene hänge er zudem von verschiedenen kulturellen, institutionellen, psychologischen und sozioökonomischen Faktoren ab. So sei der Glaube an Hexerei insbesondere in Ländern mit schwachen Institutionen, geringem sozialem Vertrauen und geringer Innovationskraft verbreitet.

In Saut d Eau auf Haiti findet jedes Jahr das Voodoo-Festival statt. Foto: Imago/ZumaPress Wire
Sodo (französisch Saut-d’Eau oder seltener Saut-Deau, wörtlich Wasserfall) ist der kreolische Name eines Wallfahrtsortes der Voodoo-Religion und der römisch-katholischen Kirche in Haiti. Foto: Imago/ZumaPress Wire
Sodo gilt als Wallfahrtsort für Voodoo-Gläubige, die dort Besessenheit mit den Geistwesen anstreben. Foto: Imago/ZumaPress Wire
Der Wasserfall, dem Sodo seinen Namen verdankt, stellt sowohl im Voodoo als auch für die römisch-katholische Kirche einen bedeutenden Wallfahrtsort dar. Zahlreiche Haitianer praktizieren sowohl Voodoo als auch den Katholizismus. Foto: Imago/ZumaPress Wire

„Jede Abweichung kann zu einer Anklage führen“

Eine frühere Studie Gershmans hatte bereits nahegelegt, dass es einen Zusammenhang zwischen Hexereiglauben und der Erosion sozialen Kapitals gibt, mit dem gemeinhin der Grad des Zusammenhalts in einer Gemeinschaft beschrieben wird.

„Er zwingt einen dazu, sich den lokalen Normen anzupassen, weil jede Abweichung zu einer Anklage führen kann“, schrieb der Ökonom damals. Diese Art der erzwungenen Konformität aus Angst führe zu Unbeweglichkeit und behindere die Schaffung von Wohlstand und die Durchsetzung von Innovationen.