Jörg Hannes Hahn dirigiert am Sonntag in der Liederhalle Foto: pro

Erster Weltkrieg, Reichspogromnacht, Mauerfall: Jörg-Hannes Hahn dirigiert an diesem Sonntag in der Liederhalle Stuttgart Benjamin Brittens monumentales „War Requiem“.

Stuttgart - Herr Hahn, Benjamin Brittens „War Requiem“ entstand Anfang der 60er Jahre im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg. In vielen Teilen ist es ist ein sehr stilles, nachdenkliches Werk, fordert aber eine große Besetzung: Orchester, Kammerorchester, Chor, Knabenchor und drei Solisten. Warum dirigieren Sie das Stück an diesem Sonntag?
Diese Aufführung ist meine persönliche zentrale Veranstaltung zum Kriegsjubiläum. Außerdem habe ich in meiner Reihe „Musik am 13.“ immer eine Veranstaltung zur Reichspogromnacht gehabt. Hinzu kommt, dass der 9. November in diesem Jahr auch der 25. Jahrestag des Mauerfalls ist. Es gibt also genügend Anlässe, ein wichtiges Gedenkstück aufzuführen. Am Ende war es wohl vor allem eine emotionale Entscheidung.
Was hat Sie vor allem zu dieser Entscheidung gebracht?
Brittens „War Requiem“ ist ja keine neue Musik im engeren Sinne. Es ist vor allem tonal – und dennoch ein profiliertes Werk des 20. Jahrhunderts. Zuletzt hat es Helmuth Rilling 2007 im Beethovensaal dirigiert, seither war es in Stuttgart nicht mehr zu hören.
In Ihren Konzertprogrammen ergänzen Sie oft Musik durch Texte. In Brittens „War Requiem“ passiert dies bereits im Stück: Da wird der Text der lateinischen Totenmesse von Gedichten Wilfred Owens durchbrochen. Wie empfinden Sie diese Brechung?
Die Gedichte wirken mittlerweile etwas fremd – auch weil uns heute in Europa der Krieg sehr fern ist. Man muss sie aber aus der damaligen Zeit lesen. Es gibt eine große Spannung zwischen den recht tonal gehaltenen Vertonungen des Requiem-Textes und den freieren Owen-Vertonungen. Mit dieser Kombination wollte Britten übrigens die Architektur der Kathedrale von Coventry abbilden, in der das „War Requiem“ 1962 uraufgeführt wurde. Direkt neben der von den Deutschen im Krieg zerstörten Kirche, die als Ruine stehen blieb, ist der Glasbau des neuen Gotteshauses, und die Blickwechsel vom Neuen zum Alten und umgekehrt spiegelt Britten in seiner Musik. Die klassizistische Ruine: Das sind das große Orchester und der große Chor, und den neuen Glasanbau bildet das Kammerorchester ab.
Mit was für einer Tonsprache?
Das ist nicht nur D-Dur oder f-Moll mit ein bisschen was dazu, sondern bewegt sich hart an der Grenze der Tonalität.
Wo sehen Sie das Zentrum des Requiems – strukturell und inhaltlich?
Im „Libera me“. Wenn das Fortissimo gesungen, fast geschrien wird, dann ist das für mich das Zentrum. Wobei dieser Satz ziemlich knifflig ist, weil das Orchester eine Klangfläche bildet, die den Chor überhaupt nicht mehr stützen kann. Das Orchester hat eine andere Taktart als der Chor, dazu kommt noch eine durchgehende marschähnliche Stretta, und am Ende kommt dieser große Aufschrei, bevor sich die Verzweiflung auflöst. Das ist für mich der Höhepunkt des Stücks. Natürlich hat das „Dies irae“ auch Britten angespornt, aber hier geht er doch recht ähnlich vor wie Verdi, sogar mit ähnlichen Tonarten – da merkt man schnell, in welchem Humus Britten wurzelt.
Wie klingt das Stück aus?
Paradiesisch, in D-Dur. In Owens Text vergeben sich zwei feindliche Soldaten, die sich gegenseitig getötet haben, und sagen: Lebe wohl, wir sehen uns im Paradies.
Im „War Requiem“ gibt es drei Klangflächen: Vorne steht das Kammerorchester mit Bariton und Tenor, dahinter das große Orchester mit dem Chor und der Sopranistin, und dahinter steht vor der Orgel der Knabenchor. Dirigieren Sie das alleine?
Nein, schon bei der Uraufführung gab es zwei Dirigenten, und bei mir wird Susanne Rohn das Kammerorchester leiten. Das ist wichtig, denn es gibt raffiniert komponierte Stellen, bei denen die Tempi der Orchester ganz unterschiedlich sind.
Warum wird das Stück so selten aufgeführt? Wegen des großen Aufwandes, der mit seiner Aufführung verbunden ist, oder weil Britten in Deutschland doch noch nicht so anerkannt ist, wie er es verdient hätte?
Fest steht, dass Britten jenseits von England mehr Beachtung verdient hätte. Er ist auch dem Fortschrittsdenken der musikalischen Avantgarde auf dem Kontinent zum Opfer gefallen. Dabei gelingt es ihm, dass bei seiner Musik jeder etwas spürt. Das lässt keinen kalt. Es macht Spaß, das Stück zu hören, es macht Spaß, es zu singen, und beim Proben gibt es rasch einen richtig guten Klang. Außerdem ist Britten handwerklich sehr versiert. Dass das „War Requiem“ so selten gegeben wird, liegt aber wohl vor allem am Aufwand: Der Chor ist riesig, das Orchester ebenfalls, und das Dirigat ist sehr komplex. Auch die Finanzierung ist ein Kraftakt.
Warum haben Sie für Ihre Aufführung den Beethovensaal gewählt?
In Bad Cannstatt reicht der Platz nicht aus. Und wegen der Bedeutung des Stücks habe ich mich schnell entschlossen, doch einmal in die gute Stube Stuttgarts zu gehen. Mit der Wahl des Raumes wollte ich auch einen gewissen Akzent setzen. Und jetzt, wo ich mich mit der Kunst beschäftigen kann, bin ich ganz gelöst. Ich weiß genau, dass ich durch jedes Stück irgendwann einen Weg finde. Das wird auch hier nicht anders sein.