Christine Thürmer lebt entweder in Berlin, oder sie wandert und wandert und wandert. Foto: privat/privat

Christine Thürmer ist Extremwandererin. Im Interview verrät sie, warum sie in manchen Outdoor-Foren verhasst ist und wie es mit Sex auf dem Trail ist.

Christine Thürmer hat Firmen saniert, bis ihr selbst gekündigt wurde. Jetzt wandert sie – beruflich. Eine Hälfte des Jahres durchquert sie auf Langstreckenwegen Kontinente, die andere Hälfte wohnt sie im Plattenbau in Berlin-Marzahn. Im Interview erklärt sie, weshalb sie sich trotzdem nicht als Aussteigerin sieht.

Frau Thürmer, Sie sind Langstreckenwanderin, haben 58 180 Kilometer zurückgelegt und nennen sich die „meistgewanderte Frau der Welt“. Warum ist dieser Titel wichtig?

Ich hadere ein bisschen damit. Alle Leute, die so exzessiv wandern wie ich, publizieren in irgendeiner Weise. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich am meisten Kilometer habe. Obwohl meine Agentin meinte, dass das ein guter Titel wäre, wollte ich ihn zuerst nicht. Ich lehne dieses „Höher, schneller, weiter“ total ab. Aber ich dachte, in Kombination mit meiner eher unsportlichen Erscheinung könnte es den Leuten Mut machen.

Sie wollen Frauen ermutigen.

Bei Social Media folgen mir zu drei Vierteln Frauen. Größtenteils gehören sie meiner Generation an, sie sind also zwischen 40 und 60 Jahre alt. Die möchten häufig mehr Outdoor-Sachen machen, aber ihnen fehlen Rollenmodelle. Ich bin von meiner Erscheinung her der Typ gemütliche Hausfrau. Das wirkt glaubwürdig.

Ich möchte ihnen mitgeben, dass sie sich am Ende einer Langstreckenwanderung in ihrem Körper immer sauwohl fühlen werden, egal, wie sie in den Augen anderer Leute aussehen, weil sie stolz auf ihn sind. Und ich stürze mich mit Begeisterung auf die Fragen, die ihnen sonst keiner beantwortet: Was machst du, wenn du deine Tage hast, und wie ist das mit dem Sex auf dem Trail?

Wie gehen Sie mit Ihrer Menstruation während einer Wanderung um?

Ich verwende eine Menstruationstasse. Das ist ein kleines Plastikgefäß, das man sich einführt. Das hört sich gut an, aber stellen Sie sich vor, Sie sind in Montana im Grizzlybären-Gebiet. Sie versuchen in der Hocke verzweifelt das Gleichgewicht zu halten, während Sie sich dieses Ding reinflutschen.

Dabei gucken Sie sich hektisch nach dem nächsten Grizzlybären um und versuchen mit der freien Hand die Mücken zu erwischen, die sich auf Ihrem Hintern niederlassen. Wenn Sie es dann noch schaffen, sich die Menstruationstasse reinzumanövrieren, dann herzlichen Glückwunsch.

Und wie ist es nun mit dem Sex?

A: Eigentlich haben Sie keine Zeit dafür, denn Sie müssen 35 Kilometer pro Tag laufen. B: Abends sind Sie zu müde. C: Weder Sie noch Ihr Sexualpartner haben sich die ganze letzte Woche gewaschen. D: Eine Isomatte ist 60 Zentimeter breit und wenn die bei dem Manöver kaputtgeht, schlafen Sie eine Woche im Kalten. Nachts ist es verdammt kalt und Millionen von Insekten warten auf meinen Hintern. Aber wenn Sie all das überwinden und es trotzdem tun, ist es grandios.

Ihr Gepäck wiegt nur fünf Kilogramm, dafür schneiden Sie Etiketten aus Ihrer Kleidung und sägen Ihre Zahnbürste ab. Gibt es einen Luxusgegenstand, den Sie trotz Ultraleicht-Gepäck mitnehmen?

Ja, Handy und Powerbank, weil das Handy der Ersatz für mein Navigationsgerät ist. Aber ich würde keine 350 Gramm schwere Powerbank brauchen, wenn ich nicht permanent im Internet surfen würde. Ich poste unterwegs jeden Tag auf Instagram und Facebook. Das ist schon anstrengend, aber ich zwinge mich dazu. Die Posts sind mein Tagebuch und eine tolle Bindung zu den Followern, also auch ein bisschen mein Unterhaltungsprogramm.

In den sozialen Netzwerken zeigen Sie neben Landschaftsbildern auch Fotos von Ihren verdreckten Beinen.

Auch ich sehe am liebsten schöne Fotos von mir, aber das ist nicht das, was ich verkünden will. Ich entscheide mich in der Regel dafür zu zeigen, wie ich ungewaschen, mit verwahrloster Frisur und behaarten Beinen durch die Gegend renne. Obwohl ich mich damit angreifbar mache, habe ich erstaunlicherweise nur ganz, ganz wenige negative Erfahrungen gemacht. Was aber sehr verwunderlich ist: Ich bin in jeder Zeitung von „Emma“ bis „Bild“ gewesen, aber ein Wander-Magazin hat mich nie gefragt. Auch in einigen Outdoor-Foren bin ich total verhasst.

Warum?

Ich denke, in solchen Foren fühlen sich die Leute als etwas Besonderes, wenn sie wandern gehen. Die glauben, sie haben etwas ganz Großes geleistet, wenn sie den Fernwanderweg Kungsleden in Schweden gewandert sind. Für mich ist das ein minimaler Teil auf meiner Strecke von Sizilien zum Nordkap.

Es gibt auch die Kritik, dass ich das Wandern in ein schlechtes Licht rücken würde, weil ich über Hygiene-Themen spreche. Ich glaube, es ist schwierig, dass ich das als Frau sage. Ich breche mehrere Tabus. In einem Forum hat eine Frau geschrieben, ich sollte mir meine Brüste verkleinern lassen, das wäre auch ultraleicht. Die Moderatoren des Forums haben nicht eingegriffen. Ich finde es traurig, weil ich aus dieser Szene komme und aus diesen Foren sehr viel gelernt habe.

Wie sind Sie denn am Anfang zum Wandern gekommen?

Ganz zufällig, ich habe bei einem Yuppie-Urlaub in San Francisco eine Wanderung im Yosemite-Nationalpark gemacht. Da habe ich die ersten Thruhiker (Wanderer, die einen Weit- oder Fernwanderweg zusammenhängend vom Anfang bis zum Ende bewandern, Anm. d. Redaktion) getroffen und war total angefixt, denn wenn ich etwas mache, dann richtig. Deshalb bin ich bei meiner ersten Langstreckenwanderung auch gleich die Strecke Mexiko–Kanada gewandert.

War es immer schon so, dass Sie Sachen komplett durchziehen?

Ja, ich habe in der Unternehmenssanierung gearbeitet. Sanierung ist inhaltlich nicht so schwer, Sie brauchen aber eine totale Konsequenz. Ich habe überall meine Nase reingesteckt und nicht lockergelassen. Deshalb hatte ich den Spitznamen Santa Inquisitia, die Heilige Inquisition. Wenn Sie ein Drittel der Belegschaft rausschmeißen müssen, dann kriegen Sie es schon ab.

Sind Sie sich selbst gegenüber auch so hart?

Na klar, sonst klappt das nicht. Ich bin Wanderin, das ist quasi mein Job. Es ist wichtig, dass man dabei Regeln hat. Nur dann hat man eine Richtlinie, um zu entscheiden, ob es sich lohnt, sich durchzubeißen. Meine lautet: Ich laufe von Punkt A nach Punkt B, die Route ist egal. Aber ich laufe diese Strecken durchgängig.

Wenn es regnet und ich 30 Kilometer Straße vor mir habe, kann man das entweder laufen, so wie ich, oder man kann in den Bus steigen und den Tag im warmen Hotel verbringen. Derjenige im Hotel hat sicherlich den schöneren Tag. Aber das, was Ihnen in Erinnerung bleibt, sind die Momente, in denen man sich durchgebissen hat. Das gibt dieses neue Selbstvertrauen. Deswegen ist die Gnadenlosigkeit eigentlich Hedonismus, denn die Belohnung ist umso größer.

Wenn das Wandern der Job ist, was ist die Freizeit?

Jetzt. Ich mache gerade Heimaturlaub. Mein Jahr ist aufgeteilt: Ich bin die Hälfte des Jahres unterwegs und die andere in Deutschland, da halte ich Vorträge, schreibe die Bücher und plane die nächste Tour. Im Prinzip ist es Luxus, in Deutschland zu sein, denn ich habe Aldi, Lidl und Penny im Überfluss. Ich habe mich schon dabei ertappt, dass ich in Santiago de Chile am Flughafen saß und vor dem Rückflug alle Sonderangebote gecheckt und überlegt habe, was ich als Erstes koche, wenn ich zurück bin.

Ist es das, worauf Sie sich am meisten freuen, wenn Sie nach einer Expedition zurückkommen?

Ja, selber kochen und Obst und Gemüse in rauen Mengen. Mein Discounter um die Ecke setzt um 18 Uhr das Obst und Gemüse herunter. Jetzt raten Sie mal, wer Punkt 18 Uhr davorsteht? Ich. Mir macht das eine diebische Freude. Eigentlich ist das bescheuert, ich könnte mir auch das normale Obst und Gemüse leisten, aber darum geht es nicht. Zu Hause gucke ich dann meine Schätze an und überlege, was ich daraus koche. Solche kleinen Sachen machen Spaß.

Und warum sind Sie in einen Plattenbau in Berlin-Marzahn gezogen?

Ich wohne da wirklich total gerne. Ich bin zwar am Ende der Welt, habe aber immer Training, weil ich überall mit dem Fahrrad hinfahre. Und ich bin total neugierig. Das hat mir eine neue Welt eröffnet. Vorher habe ich in Kreuzberg gewohnt, meine Freunde wohnen alle in Mitte. Man ist da in einer Blase. In Marzahn habe ich andere Leute kennengelernt. Die sind herzlich. Nur wenn ich in der „Bild“-Zeitung oder bei „Immer wieder sonntags“ war, muss ich abtauchen.

Sie betonen immer sehr, dass Sie nicht ausgestiegen sind. Warum ist Ihnen das so wichtig?

Weil das so ein Klischee ist. Von der Managerin zur Wandersfrau, da denken alle, ich bin angeekelt vom Kapitalismus. Das Gegenteil ist der Fall. Ich war eine knallharte Karrierefrau, mir hat das wahnsinnig Spaß gemacht. Aber ich habe gedacht: Das Leben ist kurz, da muss es noch etwas anderes geben. Das war überhaupt nicht aus Frust. Ich könnte mir auch vorstellen, wieder zu arbeiten. Bücher schreiben und Vorträge halten ist ja Arbeit. Mich reizt dabei die intellektuelle Herausforderung, ich mache das nicht aus finanziellen Gründen. Ich lebe von meinen Ersparnissen und Erträgen. Wenn man lernt, mit wie wenig man draußen auskommen kann, dann motiviert ein gut bezahlter Job nicht.

Was planen Sie als Nächstes?

Ich möchte eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin machen. Ich hatte das große Glück oder Pech, dass zwei meiner Freunde im Hospiz gestorben sind. Ich habe beide sehr häufig besucht und hatte fast den Eindruck, dass diese Besuche mir mehr gebracht haben als ihnen. Um es plakativ zu sagen: Ich reise gerne, der Tod ist die letzte Reise und wie immer will ich gut vorbereitet sein. Und wenn sie mich trotz Corona reinlassen, möchte ich als Nächstes den Grand Enchantment Trail im Südwesten der USA wandern.

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