Sattgrüne Wiesen, schneebedeckte Berge – auf dem neuen Weitwanderwegenetz kann die Vielfalt des Allgäus entdeckt werden Foto: Urlaubsregion Allgäu

Kuhwiesen, Flusstäler, Gebirgslandschaften – im Allgäu gibt’s für Wanderer von allem etwas. Diese heißen dort neuerdings Wiesengänger, Wasserläufer oder Himmelstürmer.

Obermaiselstein - Die dichten, märchenhaft anmutenden Wälder oberhalb der Allgäugemeinde Obermaiselstein haben seit jeher die Fantasie beflügelt. Sagenhafte Dinge sollen sich in der Landschaft zugetragen haben. Um die Geschehnisse aufleben zu lassen, wurde sogar ein eigener Sagenweg mit Erlebnisstationen eingerichtet. Die bekannteste Geschichte ist die von den vier wilden Fräulein. Angeblich haben sie in einer Höhle gehaust, der Sturmannshöhle. Ihre Namen: Stuzze Muzz, Tschudre Mudre, Ringgede Bingge und Maringga. Trotz ihrer vogelwilden Bezeichnungen pflegten sie einen freundlichen Umgang mit den Menschen. Und doch darf man ihnen auch heute nicht zu nahe kommen.

„Die Einheimischen sagen, dass man die Sturmannshöhle nach Sonnenuntergang nicht mehr betreten darf“, berichtet Conny Bader. Bei Tageslicht ist die Sturmannshöhle die einzige begehbare Schauhöhle im Allgäu. Conny Bader veranstaltet Sagenwanderungen. Am liebsten in der Abenddämmerung und Dunkelheit. „Dann wirken die alten Sagen und Erzählungen viel intensiver“, sagt Bader, die im Oberstdorfer Dialekt spricht. Für ungeübte Ohren mag es wie Schweizerdeutsch klingen.

Plötzlich ertönen über den Köpfen noch weitaus erstaunlichere Laute. Vogelgeschrei. Besser: Riesenvogelgeschrei. „Steinadler, ein Pärchen“, sagt Conny Bader fast beiläufig. In Deutschland nur noch in wenigen Gegenden anzutreffen. Im gesamten Allgäu aber gibt es über 20 Brutpaare der braunen Greifvögel. Ein am Himmel kreisendes Steinadlerpärchen – ein majestätischer wie seltener Anblick.

Wer kein Glück hat, Steinadler in freier Wildbahn zu erspähen, für den gibt es eine bequeme Alternative in nächster Nähe zum Sagenweg: Im Alpenwildpark oberhalb von Obermaiselstein. Mit weiteren interessanten Bewohnern, etwa einem handzahmen Fuchs und einer hypnotisch dreinblickenden Schneeeule. Und einem zünftigen Wirt, der Wanderern kühles Hefeweizen und deftige Brotzeitteller auf die Holztische stellt: Käse, Wurst, Geräuchertes – von allem etwas.

Das Weitwanderwegenetz umspannt drei Landschaften

Das gibt’s im Allgäu auch für die Sohlen. Zigtausende Wanderkilometer durchziehen die Landschaft: Flaches Voralpenland mit endlosen Wiesen, bunten Bauerngärten und unzähligen Kühen, grüne Hügel mit abgelegenen Sennereien sowie luftige Gebirgsregionen mit schroffen Zweitausendergipfeln. „Das ist das Besondere bei uns“, sagt Michael Lohmüller, der Wirt, im Schlagschatten eines Maibaums, „im Allgäu gibt’s drei Lagen.“ Fast wie bei einem reichhaltig belegten Wurstbrot.

Um dem Kind einen Namen zu geben und sich als Wanderregion neu aufzustellen, wurde die Wandertrilogie Allgäu ins Leben gerufen. „Erstmals wurde mit der Wandertrilogie Allgäu die Landkarte neu geschrieben“, verkündet die Werbung etwas vollmundig. Immerhin, das Weitwanderwegenetz erstreckt sich über 876 Kilometer. Ziemlich gleichmäßig verteilt auf die drei Landschaftsräume. Abgepackt in 51 Etappen und drei Routen für drei Wandertypen: den Wiesengänger, den Wasserläufer und den Himmelsstürmer.

Klingt mit etwas Bosheit nach Begriffen wie Warmduscher oder Schattenparker. Die Assoziation mag gewagt und gemein sein und doch: „Wanderer sind unselbständiger und gleichzeitig anspruchsvoller geworden“, sagt Christa Fredlmeier, Projektleiterin der Wandertrilogie. Ohne eine Marke, einen Rahmen und eine lückenlose Ausschilderung ginge heutzutage gar nichts mehr. Beziehungsweise keiner mehr. Wanderkarten könnten immer weniger lesen.

Zum Ersatz gibt’s an so genannten Trilogieplätzen Geschichten zu lesen. Über Kultur und Natur, Land und Leute. Über Menschen, die das Allgäu geprägt haben, etwa Pfarrer Kneipp oder König Ludwig II. „Ich bin selbst immer wieder überrascht, wie vielfältig die Region ist“, sagt Christa Fredlmeier. Sie schwärmt von den unbekannten Seiten des Allgäu. Etwa dem württembergischen Westallgäu um Bad Wurzach und Wangen, von mystischen Mooren und beeindruckenden Altmoränen. Drei Eiszeitgletscher formten die Landschaft: Iller-, Lech- und Rheingletscher.

Apropos formen, apropos König Ludwig: Der Märchenkönig liebte bekanntlich bauliche Inszenierungen in malerischer Umgebung. Schloss Neuschwanstein im Ostallgäu ist wohl das prominenteste Beispiel. Die schönsten Bauwerke schuf die Natur allerdings auch im Allgäu selbst. Die imposantesten befinden sich auf der rot markierten Himmelsstürmer-Route. Auf ihr geht es auf die Allgäuer Gipfel hinauf.

Etwa von Oberstaufen in Richtung Hochgrat. Vorbei an den Buchenegger Wasserfällen. Einem verborgenen Idyll, das bei warmem Wetter sogar geübte Felsenspringer anlockt. Fast wie den Klippenspringern in Brasilien. Und immer wieder vorbei an verlockenden Einkehrmöglichkeiten: Das Allgäu hat angeblich die europaweit höchste Dichte an Alpen. So heißen im Allgäu die Almen. Auf diesen Unterschied wird Wert gelegt. Schließlich befindet man sich im alemannischen Sprachraum, nicht im bayrischen. Merke: Alp mit hartem P.

Richtig hart wird’s wenn die Wanderer den Hochgrat erreichen, 1834 Meter überm Meeresspiegel. Nicht unbedingt konditionstechnisch, eher geologisch. Der Hochgrat gehört zur Nagelfluhkette. Ein offizieller Naturpark, und der einzige zwischen Deutschland und Österreich. Der Name stammt vom Nagelfluh, einem Konglomerat mit eingeschlossenen Gesteinsbrocken. Es erinnert an Waschbetonplatten. Der Nagelfluh wird im Allgäu deshalb auch scherzhaft Herrgottsbeton genannt. Wohl der einzige Beton, den Wanderer in freier Natur schätzen.