Walter Sittler Foto: Kraufmann

Schauspieler Walter Sittler kämpft gegen Stuttgart 21 und sieht im Streit positives Signal.

Stuttgart - Walter Sittler ist inzwischen einer der führenden Köpfe im bürgerlichen Protest gegen Stuttgart 21. Er will 50.000 Bürger zum friedlichen Protest auf die Straße bringen. Dass man den Kampf gegen das Milliardenprojekt auch verlieren kann, gehört für den Schauspieler dazu.

Wolfgang Sittler hat nichts gewusst. Als der Schauspieler vergangenen Montag vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof seine Protestaktion "Schwabenstreich" intonierte, sägten Demonstranten ein Loch in den Bauzaun und besetzten die Stuttgart-21-Baustelle am Nordflügel.

"Ich war in die Pläne nicht eingeweiht", sagt Sittler am Mittwoch im Redaktionsgespräch mit unserer Zeitung. "Ich demonstriere gegen die falschen Entscheidungen für Stuttgart 21 oder gegen die Politik des Ministerpräsidenten - aber nicht gegen Bauzäune." Gewalt gegen Sachen oder Personen sind für ihn tabu. Sein Unmut über die spektakuläre Aktion der Parkschützer-Initiative ist nicht zu überhören.

Andererseits, argumentiert Sittler, solle man die Verhältnismäßigkeit sehen: "Am selben Montag haben Zoll und Polizei auf der Stuttgart-21-Baustelle etliche Schwarzarbeiter entdeckt." Verglichen damit sei die friedliche Baustellenbesetzung beinahe harmlos gewesen, meint Sittler: "Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Mit ihrer scharfen Reaktion auf die Besetzung will die Polizei weitere Demonstrationen am Hauptbahnhof unmöglich machen."

Am 15.November 2009 hat der Schauspieler im Mittleren Schlossgarten einen "Widerstandsbaum" gepflanzt und sich damit erstmals öffentlich gegen das Bahnprojekt gewandt. Sittler ist kein Mitglied im Aktionsbündnis gegen Stuttgart21 - und trotzdem inzwischen einer der bekanntesten Gegner des Milliardenprojekts. "Ich bin bestimmt kein Revolutionär", betont der 57-jährige Wahl-Stuttgarter. Er hat im Protest keine neue Rolle, keine weitere Spielstätte gesucht. "Ich will mich als Bürger dieser Stadt zu Wort melden", stellt Sittler klar. Das ist keine Bescheidenheit, sondern Überzeugung und Entschlossenheit.

Sittler kokettiert mit seiner Nettigkeit

Sittler erreicht mit seiner Popularität größere Bevölkerungskreise und dringt tiefer ins bürgerliche Lager vor. Er kokettiert mit seiner Nettigkeit. "Ich will auch die Bürger ansprechen, die schon meinen, dass ein Protest sinnlos wäre", sagt er. In diesem Sinne sei er schon ein "Anheizer", meint er: "Ich möchte, dass 50.000 Stuttgarter Bürger friedlich gegen Stuttgart21 auf die Straße gehen." Die Bilder in den Medien von Menschenmassen haben Wirkung. "Wir brauchen solche Bilder", sagt Sittler.

Offizieller Baustart von Stuttgart 21 war am 2.Februar 2010. Was man da jetzt noch ausrichten kann, will die Redaktion wissen. Immer noch alles, meint Sittler sinngemäß. Die Montagsdemonstrationen 1989 in der DDR hätten gezeigt, dass "der verletzliche Mensch als große Masse auch den Staatsapparat stoppen" könne. In Stuttgart im Jahr 2010 habe man zwar andere Probleme - aber "das Prinzip ist dasselbe". Ist das nicht zu viel Pathos? Nein, sagt Sittler. Er ergänzt aber, dass die Bürgerrechtler der DDR ihr Leben riskiert hätten. "Das tun wir nicht."

Die Argumente gegen das Projekt Stuttgart 21 kann der Redaktionsgast lange und ausdauernd referieren: Die Subventionen von Stadt und Land, damit die Bahn nicht aussteigt; die immensen Kosten von 4,1 Milliarden Euro; die Kostensteigerungen; unter Verschluss gehaltene Prognosen; Risiken während des Tunnelbaus; Gefährdung der Mineralwasserquellen; Sensibilität von Baugrund und Grundwasser. Das ist alles nichts Neues. Trotzdem spürt man die besondere Überzeugungskraft, die der schlaksige Schauspieler mit seiner klaren, professionellen Diktion entwickelt. Wenn es ihm besonders ernst wird, schneidet er die Luft vor ihm mit der Hand in Scheiben.

"Als das Projekt 1995 präsentiert wurde, dachte ich, dass sich die Politik - vor allem die Grünen - schon darum kümmern wird", erinnert sich Sittler. Man müsse als Bürger "nicht gleich auf die Straße gehen", wenn einem eine aktuelle Entwicklung nicht passe. "Ich will die demokratischen Vertreter gar nicht demontieren", betont er. Doch bei großen Zukunftsfragen sei der gesunde Menschenverstand oft klüger und verlässlicher als die politischen Entscheidungen.

"Die Wut der Bürger wächst", hat Sittler beobachtet. Das liege daran, dass bei Stuttgart 21 derzeit bald täglich neue Schwachstellen und Fragwürdigkeiten ans Licht kämen. "Es gibt zum Beispiel kein einziges seriöses Gutachten, das den volkswirtschaftlichen Nutzen von Stuttgart 21 darstellt", kritisiert Sittler. Ob er selbst noch Vorteile des Milliardenprojekts erkennen könne?. Bei der Antwort zögert Sittler lange. "Der Flächenzugewinn in der Innenstadt ist ein Vorteil", sagt er schließlich. Wenn Stuttgart 21 in Betrieb geht, baut die Bahn die oberirdischen Gleise und Anlagen ab und übergibt 100 Hektar an die Stadt. Das wird aller Voraussicht nach aber nicht vor dem Jahr 2022 geschehen.

"Erweiterung des Schlossgartens ist zu teuer"

"Die Behauptung von OB Schuster, dass diese Flächen für eine ökologische Stadtentwicklung genutzt werden, glaube ich aber nicht", schränkt Sittler ein. Der hohe Kaufpreis von 7000 Euro pro Quadratmeter, den die Stadt der Bahn gezahlt habe, rechne sich nur bei einer späteren dichten Bebauung mit Bürogebäuden oder exklusiven Wohnungen. Auch die geplante Erweiterung des Schlossgartens um 20 Hektar könne sich die Kommune "gar nicht leisten", meint er.

Um den momentanen Konflikt zu befrieden, kann sich Sittler bloß das vielfach geforderte Moratorium vorstellen. "Mit dem Messer im Rücken kann man nicht reden", sagt er. Dieses Messer sind für ihn die laufenden Abbrucharbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs. "Für manche Projektgegner ist die Zeit des Redens vielleicht vorbei - für mich nicht", beteuert Sittler.

Ob die Motive für den Protest nicht tiefer liegen - etwa in Fragen der sozialen Gerechtigkeit -, will die Redaktion wissen. Das sei individuell verschieden oder kaum voneinander zu trennen, antwortet Sittler ausweichend. Seiner Meinung nach wird bei der Landtagswahl im März 2011 eher die SPD als die Regierungspartei CDU für Stuttgart 21 gestraft. Das liege vor allem daran, dass sich Wolfgang Drexler, SPD-Landtagsabgeordneter aus Esslingen und Vizepräsident des Landtags, als Sprecher des Bahnprojekts starkmache.

Sittler schließt nicht aus, dass die Protestbewegung den Kampf gegen Stuttgart 21 auch verliert: "Es kann schiefgehen, Verlieren gehört zum Leben dazu." Er würde seiner Wahlheimat nicht den Rücken kehren, nur weil das Projekt verwirklicht wird.

"Der Streit um Stuttgart21 ist ein positives Signal; er hat der Stadt und ihrer Außendarstellung bereits jetzt gutgetan", bilanziert Sittler. Wenn weiterhin so viele Bürger friedlich protestierten, werde der Protest noch "unwiderstehlich". Sittlers Rechnung ist einfach: "Zehntausende Bürger sind gegen das Projekt - und auf der anderen Seite gibt es vielleicht zehn Politiker und Manager, die Stuttgart 21 befürworten."