Gaudenzio Filos (59, links) und Dieter Zimmermann (67) stehen Jahrzehnte nach ihrem Aufenthalt im Waldhaus in Hildrizhausen wieder auf dem Gelände, das sich seit damals ziemlich verändert hat. Foto: factum/Bach

Die Jugendhilfeeinrichtung Waldhaus in Hildrizhausen hat zu ihrem 60-jährigen Bestehen auch Ehemalige eingeladen. Zwei von ihnen erzählen, wie sie im Heim mitten auf dem Land die Grundlagen fürs Leben gelernt haben.

Hildrizhausen - Gaudenzio Filos und Dieter Zimmermann sind respektable Männer mit ergrautem Haar. Zimmermann hat sein Leben lang als Hausmeister in diversen Einrichtungen und Firmen für Ordnung gesorgt, nun ist er Rentner. Filos arbeitet als Betriebsleiter bei einem Umzugsunternehmen in der Schweiz. Beide haben Kinder, sind mittlerweile Großväter. Ein bürgerliches Leben haben sie sich aufgebaut. Doch vor 40, 50 Jahren schien das alles andere als selbstverständlich.

„Ich hatte ein hohes Aggressionspotenzial und war ständig in Schlägereien verwickelt“, erzählt Gaudenzio Filos. Der Vater starb, als Filos ein Baby war. Die Mutter wanderte von Italien in die Schweiz aus. Weil sie arbeiten musste, gab sie den Jungen in Pflege. „Meine Pflegeeltern waren sehr alt“, sagt der 59-Jährige. Als der Pflegvater 1972 starb, war der Junge 14 und mitten in der Pubertät. Das Jugendamt schickte ihn nach Hildrizhausen ins Waldhaus. „Böse- Buben-Heim“ hieß es damals bei vielen Einheimischen in der Umgebung. „Wir hatten schon einen Ruf als Ganoven“, so Filos. Dabei verdanke er dem damaligen Chef Hans Artschwager senior viel. „Er hat verstanden, mit meinen Aggressionen umzugehen.“ Vor allem der viele Sport, der im Waldhaus ganz oben auf der Prioritätenliste stand, habe ihm geholfen, sagt Filos.

Der jetzige Chef ist im Waldhaus groß geworden

1957 hatte Hans Artschwager senior das Waldhaus gegründet. Kurz zuvor war der Maurer und Jugendwohlfahrtspfleger nach Hildrizhausen gekommen, um im dortigen Heim der Bewährungshilfe junge Straffällige auf den rechten Weg zu führen. Als der Leiter ging, baute Artschwager das Haus um, machte es zu einer GmbH und richtete den Fokus vor allem auf die Prävention. Die Betreuung von Jungen in schwierigen Lebenslagen wurde zu seinem Lebenssinn. Seine drei Söhne Hans, Wolfgang und Axel wurden in die Einrichtung hineingeboren, wurden dort groß. „Ich war mit den Artschwagerbuben befreundet, habe mit ihnen fast täglich Handball gespielt“, erzählt Filos.

Handball war die zweite große Leidenschaft von Artschwager senior. Er gründete den Handballverein BC Waldhaus, in dem bald nicht nur Schützlinge und Mitarbeiter der Einrichtung spielten, sondern auch viele Jugendliche aus dem Dorf. „Das war eine gute Form der Integration“, sagt Dieter Zimmermann. Der 67-Jährige verbrachte insgesamt zehn Jahre im Waldhaus. „Beim ersten Mal war ich 16, das zweite Mal kam ich als Mitarbeiter zurück.“

Das Waldhaus hat die Familie ersetzt

Im Waldhaus habe er zum ersten Mal „so etwas wie Familie erlebt“, sagt Zimmermann: „Ein richtiges Zuhause habe ich vorher nicht gekannt.“ Mit dem Freund der alleinerziehenden Mutter sei er nicht klar gekommen und deshalb immer viel herumgestreunt. Bis das Jugendamt einschritt und den 16-Jährigen aus der Großstadt Frankfurt „in die Pampa“ verfrachtete. „Das war ein echter Kulturschock.“

Doch er habe sich schnell eingewöhnt, die Vorteile des Landlebens erkannt. „Der Sport und das Arbeiten auf dem Gelände, das war richtig für mich“, ist sich Zimmermann sicher. „Mein Vater hat Wert auf Sport und Abenteuer gelegt. Das sind die Grundlagen unserer Arbeit. Heute nennt man das Erlebnispädagogik“, sagt Hans Artschwager junior, der nach dem Tod des Vaters die Geschäftsführung übernahm. In die Großstadt ist Zimmermann nie zurückgekehrt. Mit 20 verließ er die Einrichtung. Bis heute lebt er in Herrenberg, nur wenige Kilometer vom Waldhaus entfernt.

Die Grundlagen fürs Berufsleben gelernt

Gaudenzio Filos hingegen war beim großen Ehemaligentreffen, zu dem das Waldhaus zum 60-Jahr-Jubiläum geladen hatte, „das erste Mal seit 41 Jahren wieder da“. Sehr emotional sei das gewesen: „Hier habe ich die Grundlagen für mein Leben erhalten, gelernt, meine Aggressionen in den Griff zu bekommen.“ Er absolvierte eine Ausbildung in der Metallwerkstatt der Einrichtung. Auch Dieter Zimmermann holte sich im Waldhaus das Rüstzeug für sein Leben. „Die Metallwerkstatt war nichts für mich. Aber ich habe überall auf dem Gelände Handwerksarbeiten verrichtet. Und so hatte ich später immer einen Job als Hausmeister.“ Von 1980 bis 1987 war er sogar Hausmeister im Waldhaus.

Wie viel Glück er hatte, ausgerechnet im Waldhaus und nicht in einer anderen Jugendhilfeeinrichtung zu landen, wurde Gaudenzio Filos klar, als er vor einigen Jahren mit einem Arbeitskollegen auf ein anderes ehemaliges Heimkind traf: „Der hat mir schreckliche Geschichten von Schlägen und so erzählt.“ Derartiges habe er im Waldhaus nie erlebt.

Wichtig sei die Arbeit der Pädagogen auch heute noch, sind sich Filos und Zimmermann einig. „Es gibt viele Jugendliche, die Schwierigkeiten haben – mit der Familie, Drogen, Alkohol, Gewalt“, sagt Filos. „Man muss alles tun, um diesen Jugendlichen zu helfen. Bei mir hat es gewirkt.“