Sahra Wagenknecht beim Interview Foto: photothek.de/Thomas Koehler

Im Gespräch mit unserer Zeitung fordert BSW-Chefin Sahra Wagenknecht eine radikale Senkung der Zahl ankommender Flüchtlinge in Deutschland.

In den Umfragen rutscht das Bündnis Sahra Wagenknecht langsam Richtung 5-Prozent-Marke. Über die Ursachen haben wir mit der Namensgeberin der neuen Partei gesprochen. Es geht auch um Friedrich Merz und den Ukraine-Konflikt.

 

Frau Wagenknecht, das BSW hätte am Mittwoch die so umstrittene Mehrheit für den 5-Punkte-Plan von Friedrich Merz verhindern können.

Warum hätten wir das tun sollen?

Um zu verhindern, dass die AfD ihren größten bundespolitischen Erfolg ihrer Geschichte feiern kann.

Der Erfolg der AfD rührt nicht daher, dass man mit ihr abstimmt, sondern dass die Politik sich seit Jahren weigert, die Probleme der Menschen auch nur ansatzweise zu lösen. Das betrifft den Kontrollverlust bei Migration ebenso wie die hohen Preise für Lebensmittel und Energie oder die miese Wirtschaftslage. Deshalb steht die AfD heute bei über 20 Prozent. Über Jahre wurde jeder, der Änderungen in der Migrationspolitik eingefordert hat, in die rechte Ecke gestellt.

Dann hätten Sie dem 5-Punkte-Plan von Merz ja sogar zustimmen können…

Ich finde in dem Papier manches richtig, einiges ist Symbolik. Wir sollten an wichtigen Kontrollpunkten die Ankommenden zurückweisen, aber wahr ist auch, dass wir nicht 4000 Kilometer deutsche Grenze dicht machen können. Besser wäre, die Vorgaben des Grundgesetzes in die Asylgesetzgebung zu übernehmen: Menschen, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, haben nach Artikel 16a Grundgesetz gar kein Recht auf ein Asylverfahren in Deutschland. Reale Folgen hat das Zustrombegrenzungsgesetz, dem wir am Freitag zugestimmt haben. Wir müssen die Zahl der neu ins Land kommenden Flüchtlinge radikal verringern. Wer das verweigert, wird die AfD weiter stärken. Es ist bemerkenswert, dass das die selbst ernannten Antifaschisten, die jetzt ein Riesentheater um die Abstimmung machen, gar nicht interessiert.

Haben Sie keine Bauchschmerzen, wenn Mehrheiten von Union und AfD zustande kommen?

Was mir Bauchschmerzen bereitet, ist das jahrelange Aussitzen und Wegschweigen der Probleme. Als ich 2016 nach den Übergriffen auf der Kölner Domplatte gesagt habe, wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht eben auch verwirkt, wurde ich als Rechtsradikale hingestellt. In den letzten Jahren haben wir jährlich um die 200 000 Menschen, manchmal mehr, aufgenommen. Die Bürger spüren, dass das nicht funktioniert: In Deutschland fehlen 800 000 Wohnungen, es fehlen Tausende Lehrer, das Gesundheitswesen und die Sicherheitsbehörden sind überlastet. Immer wieder sterben Menschen durch Täter, die gar nicht mehr in Deutschland sein dürften. Da muss endlich etwas geschehen, wenn die Stimmung im Land nicht komplett kippen soll.

Das BSW dringt mit seinen Einschätzungen offenbar nur schwer durch. Mit welchen Botschaften wollen Sie die letzten Wochen des Wahlkampfs bestreiten?

Wir sind die einzige konsequente Friedenspartei. Alle anderen liefern sich einen Überbietungswettbewerb bei der Aufrüstung – ganz vorne die AfD. Und natürlich thematisieren wir die soziale Gerechtigkeit: schlechte Renten, zu niedrige Löhne, steigende Mieten, wachsende Ungleichheit. Die AfD spricht über Sozialmissbrauch, aber nie über Armut oder Steuerbetrug am oberen Ende der Einkommensskala. Und die SPD entdeckt Gerechtigkeitsfragen regelmäßig nur in Wahlkampfzeiten, um sie nach der Wahl ebenso zuverlässig wieder zu vergessen. Es ist auch SPD-Verantwortung, dass ein Milliardär in Deutschland weniger Steuern zahlt als eine Mittelschichtfamilie. Das BSW ist die Stimme der Menschen, die mit der herrschenden Politik nicht einverstanden sind, aber die AfD nicht für eine seriöse Alternative halten.

Wie erklären Sie sich den Abstieg des BSW in den Umfragen?

Im Sommer hatten wir Werte, die für eine so junge Partei absolut außergewöhnlich waren. Wir haben vier Wahlen mit Bravour gemeistert, aber es war klar, dass der Bundestagswahlkampf viel schwerer wird. Wir haben wenig Ressourcen, wenig Geld, noch keine Strukturen in der Fläche. Seit einiger Zeit werden wir von vielen Medien geschnitten und richtig bekämpft. Die alten Parteien wollen uns aus dem Bundestag drängen. Und dann überlagert durch die schrecklichen Anschläge das Migrationsthema alle anderen, das hilft vor allem der AfD. Manche glauben, Donald Trump werde den Ukraine-Krieg beenden. Das wäre natürlich ein Segen, aber ich habe Zweifel. Und auch unabhängig davon wird die Frage nach Krieg und Frieden in den nächsten Jahren zentral bleiben. Allerdings: bei vielen Instituten stehen wir unverändert bei über 5 Prozent.

Hat diese Woche Ihr Verhältnis zu Friedrich Merz verändert?

Nein. Ich halte Herrn Merz außenpolitisch für einen Hasardeur, der mit der Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine unser Land in große Gefahr bringen könnte. Das ist unverantwortlich. Aber wenn er tatsächlich die Zahl der Asylbewerber deutlich senken will, unterstütze ich das. Dagegen spricht, dass er wahrscheinlich mit Grünen oder SPD regieren wird. Die große Gefahr ist doch: Nach der Wahl geht es mit Merz genauso schlecht weiter, wie es vor der Wahl mit Scholz aufgehört hat. Dann wird die AfD 2029 den Kanzler stellen.

Glauben Sie, dass er Absprachen mit der AfD suchen würde?

Ich denke nicht, dass er eine Koalition mit der AfD plant. Ich habe es übrigens für einen Fehler gehalten, dass die Union zu einem Zeitpunkt, als die AfD noch keinen rechtsradikalen Flügel hatte und eher eine konservative Professoren-Partei war, nicht mit der AfD koaliert und sie dabei entzaubert hätte.

Könnten Sie sich denn zumindest eine punktuelle Zusammenarbeit mit der Union vorstellen?

Punktuell sollte Zusammenarbeit immer möglich sein – etwa in der Migrationspolitik. Außenpolitisch und sozialpolitisch sind wir denkbar weit entfernt. Aber mit einem starken BSW im Bundestag gibt es zumindest die Chance, dass die SPD, die Merz ja voraussichtlich als Koalitionspartner braucht, in der Friedensfrage nicht komplett kippt.

Sehen Sie eigentlich Donald Trump in dieser Frage als strategischen Verbündeten, weil er sichtlich kein Interesse hat, die Ukraine weiter zu unterstützen?

Er ist unberechenbar. Manches spricht dafür, dass er den Krieg beenden will. Eigentlich sieht doch jeder, dass die Ukraine die von Russland besetzten Gebiete militärisch nicht zurückerobern kann. Deshalb ist es unverantwortlich, weiterhin junge Männer in diesem sinnlosen Krieg zu verheizen und Steuergeld für immer mehr Waffen zu verbrennen. Die Waffen müssen schweigen und dann muss verhandelt werden.

Damit wird die Ukraine ausgeliefert…

Wir liefern doch niemanden aus, wenn der Konflikt an der jetzigen Frontlinie zunächst eingefroren wird. Im Gegenteil. Geht der Krieg weiter, werden absehbar immer größere Teile der Ukraine besetzt.

Und wie soll es nach einem Schweigen der Waffen weitergehen?

Dann muss verhandelt werden. Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien. Die Russen wollen kein US-Militär an ihrer Grenze. Da muss man Kompromisse finden. Im besten Fall kann die UN in die besetzen Gebiete hinein und es gibt ein UN-beaufsichtigtes Referendum darüber, zu welchem Land die Mehrheit der Menschen gehören möchte. Wenn die Waffen schweigen, können auch die vielen Menschen aus der West-Ukraine wieder in ihre Heimat zurück, die derzeit bei uns und in anderen Ländern Zuflucht gefunden haben.

Und parallel dazu dreht Russland wieder den Gashahn für uns auf?

Die Wirtschaftssanktionen schaden vor allem uns, nicht Russland. Gazprom macht Gewinne, weil die Preise derart gestiegen sind. Deutsche Familien und Unternehmen leiden unter hohen Energiepreisen, während das Geld, das ihnen fehlt, sich auf den Konten reicher Amerikaner, reicher Saudis und reicher Russen bzw. des russischen Staates – in dieser Reihenfolge übrigens – wiederfindet. Wir haben die Abhängigkeit vom preiswerten russischen Gas durch eine neue Abhängigkeit vom teuren amerikanischen Gas ersetzt. Das zerstört unsere Industrie.

Ein zentrales Anliegen Ihrer Partei ist die Corona-Aufarbeitung. Was genau wollen Sie da?

In der Corona-Zeit wurden elementare Grundrechte willkürlich außer Kraft gesetzt. Gesundheitsminister Lauterbach hat sich über Empfehlungen des RKI hinweggesetzt, er hat etwa die Risikobewertung gegen den Rat der Wissenschaftler hochgehalten, um die Impfpflicht durchzusetzen. G2 war blanke Willkür, ebenso wie die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Wie war das möglich? Warum haben alle Kontrollinstanzen versagt? Warum haben auch die Medien versagt?

Mitunter hat man den Eindruck, dass Marx vielleicht doch recht hatte. Der Kapitalismus ist zum Monopolkapitalismus geworden. Mit immer größeren Machtkonzentrationen. Sehen Sie sich eigentlich noch als Marxistin?

Ich glaube, dass Marx sehr kluge Analysen geschrieben hat und dass es niemandem schadet, Marx zu lesen. Viele Zusammenhänge versteht man dadurch besser. Er hat unter anderem darauf hingewiesen, dass Märkte, wenn man sie nicht ordentlich reguliert, sich selbst abschaffen. Tatsächlich haben wir heute immer mehr Bereiche, wo der Markt nicht funktioniert. Schauen Sie etwa auf die Machtkonzentration im Lebensmittelbereich. Deshalb gehören die Aldi-Erben und Herr Schwarz, der Eigentümer von Lidl, zu den reichsten Deutschen.

In den heutigen politischen Auseinandersetzungen im Mittelpunkt zu stehen, ist sehr hart geworden. Auch Sie waren und sind Angriffen ausgesetzt. Haben Sie manchmal überlegt, warum Sie sich das antun?

Vor Neugründung unserer Partei habe ich darüber natürlich nachgedacht, ja. Ich hatte die Wahl, nach der Legislaturperiode aufzuhören und in Ruhe Bücher zu schreiben, oder noch einmal viel Lebenszeit und Kraft in ein neues Projekt zu stecken. Das Ergebnis sehen Sie.

Und warum haben Sie sich so entschieden?

Weil ich das Gefühl habe, es braucht eine neue Kraft. Die alten Parteien haben unser Land in den Niedergang geführt. Das Ideal der AfD ist eine Ellenbogengesellschaft mit extremer Ungleichheit nach dem Vorbild der USA. Es muss eine Alternative zu beidem geben.