Erdogan bei einem Auftritt vor AKP-Mitgliedern. Die Opposition leistet dem amtierenden Präsidenten aktuell starken Gegenwind. Foto: dpa

Die türkische Opposition ist aktiv und munter – Erdogan hat ihr höchstpersönlich einen Kampagne-Slogan geliefert. Für den Präsidenten soll die Wahl im Juni seine schwierigste seit 20 Jahren werden.

Ankara - Die Türken sind es gewohnt, dass Recep Tayyip Erdogan die Wahlkämpfe in ihrem Land beherrscht. Auch vor den vorgezogenen Neuwahlen am 24. Juni ist das so – doch in einem ganz anderen Sinn als in den vergangenen Jahren: Alle reden über Erdogan, weil er Schwächen zeigt, laut über eine Niederlage nachdenkt und sich andere Ausrutscher leistet.

So hat der Präsident der Opposition unabsichtlich einen gemeinsamen Wahlslogan geliefert. Er werde sich zurückziehen, wenn die Wähler ihm sagen sollten, es sei „genug“, sagte Erdogan. Das türkische Wort für genug, „tamam“, ist seitdem zum Schlachtruf seiner Gegner geworden: „Tamam“ findet sich als Sprühparole auf Hauswänden und millionenfach auf Twitter.   Angesichts der „Tamam“-Lawine rief Erdogans Präsidialamt die Anhänger des 64-jährigen Staatschefs auf, sie sollten mit der Parole „Devam“ – weiter – antworten.

Mit dem Appell räumte die Regierung indirekt ein, wie wirksam Erdogans unfreiwillige Wahlkampfhilfe für die Opposition ist. Schon seit Verkündung des Termins für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die Erdogan unter dem Druck seines nationalistischen Partners Devlet Bahceli vorziehen musste, ist der Präsident in der Defensive. Die Opposition schickt mehrere klug ausgesuchte Präsidentschaftskandidaten gegen ihn ins Rennen. Selbst bei der Vorstellung seines Wahlprogramms während einer Kundgebung der Regierungspartei AKP in Istanbul vor Kurzem konnte Erdogan die Basis nicht begeistern.

Erdogan so nervös wie nie

Recep Tayyip Erdogan erlebe den schwersten Wahlkampf seit 20 Jahren, meint der Journalist Rusen Cakir, der Erdogan seit den 1990er Jahren beobachtet. Der Staatschef sei so besorgt und so nervös wie nie, sagte Cakir im Internet-Fernsehkanal Medyascope. Anders als in der Vergangenheit habe Erdogan keine positiven Botschaften für die Wähler, sondern nur Parolen der Angst wie Warnungen vor einem angeblichen internationalen Komplott gegen die Türkei. Unter anderem droht Erdogan mit einer erneuten Militärintervention im benachbarten Syrien.

Bei vielen konservativen Stammwählern ist Erdogan nach wie vor sehr beliebt. Doch für einen Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl braucht er mehr als 50 Prozent und dafür die Stimmen von Wechselwählern und Nationalisten. Nach Einschätzung des angesehenen Meinungsforschers Murat Gezici liegt Erdogan derzeit bei lediglich 46 Prozent der Stimmen – und das, obwohl der Präsident den gesamten Staatsapparat und auch die meisten Medien kontrolliert.

Bei der ebenfalls am 24. Juni stattfindenden Parlamentswahl werde Erdogans AKP ihre Mehrheit in der Volksvertretung verlieren, wenn sich der derzeitige Trend fortsetze, sagte Gezici der Deutschen Welle. Sollte die Opposition das Parlament erobern, könnte das den Erdogan-Gegnern zusätzlichen Schwung für eine mögliche Stichwahl um die Präsidentschaft verleihen. Diese würde dann am 8. Juli stattfinden.

Die türkische Wirtschaft läuft bergab

Nach 16 Jahren an der Regierung fällt es der AKP schwer, sich als Kraft der Erneuerung zu präsentieren. Das wichtigste Problem aus Sicht der meisten Wähler ist die Wirtschaftsentwicklung. Trotz hoher Wachstumszahlen auf dem Papier kämpfen viele Normalbürger im Alltag mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit. Die türkische Lira erlebt seit Monaten einen drastischen Wertverlust, der sich nach der Aufkündigung des internationalen Iran-Abkommens durch die USA noch einmal beschleunigt hat. Eine von Erdogan einberufene Dringlichkeitssitzung der Wirtschaftsberater seiner Regierung konnte die Talfahrt bisher nicht stoppen.

  Unterdessen sammelt die Opposition weiter Punkte. Muharrem Ince, Präsidentschaftskandidat der säkularistischen Partei CHP, präsentiert sich als Politiker, der Türken, Kurden, Aleviten und Sunniten miteinander versöhnen will – statt das Land weiter zu spalten, wie Erdogan das tue. Ince stattete nicht nur Erdogan einen Höflichkeitsbesuch ab – er reiste demonstrativ zum inhaftierten kurdischen Präsidentschaftsbewerber Selahattin Demirtas, um für Chancengleichheit im Wahlkampf zu werben. Auch der islamistische Kandidat Temel Karamollaoglu fordert Demirtas‘ Freilassung – und bringt Erdogan damit weiter in die Defensive.