Eine Montagsdemo in der sächsischen Stadt Freiberg zwischen Chemnitz und Dresden – unterstützt von der Kleinstpartei „Freie Sachsen“, die der Verfassungsschutz als erwiesen rechtsextremistisch einstuft. Foto: /Dürr

Am 1. September wählt Sachsen einen neuen Landtag. Was treibt die Menschen vor Ort um? Zu Besuch bei gefrusteten Wählern, bedrohten Lokalpolitikern – und Bürgern, die die Spaltung überwinden wollen.

Diese Bundesrepublik Deutschland sei nicht mehr die, für die er 1989 in der DDR auf die Straße ging, sagt Hans-Jürgen Bernauer. Der 70-Jährige ist einer von rund 50 Leuten, die an einem Montagabend im August durch das sächsische Freiberg ziehen – eine Stadt zwischen Chemnitz und Dresden mit 40 000 Einwohnern. Der Mann schwenkt die königlich-sächsische Flagge, das Erkennungszeichen der „Freien Sachsen“, eine Kleinstpartei, die der sächsische Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch einstuft.

Auch Schüler schließen sich der Montagsdemo an

Früher habe er CDU gewählt, erzählt der Rentner, dann die AfD, bei der Landtagswahl am 1. September wird er sein Kreuz bei den „Freien Sachsen“ setzen. Rechtsextrem seien die nicht, sagt Bernauer. Und wenn einige seiner Mitstreiter mal überziehen würden, entgegne er ihnen: „Hitler haben wir gar nichts zu verdanken. Er hat die beste Armee der Welt verbrannt.“

Hans-Jürgen Bernauer bei der Montagsdemo im sächsischen Freiberg. Foto: STZN/Dürr

Dem Protest schließt sich auch ein älterer, humpelnder Herr an, auf seinem Gehstock sind die Farben der Reichsflagge aufgemalt: schwarz-weiß-rot. Auf einem großen Transparent prangt die Forderung „Grüne an die Ostfront“, gehalten wird es auch von einer Schülerin und einem Schüler. „Es geht um unsere Zukunft, weil wir bald nichts mehr bezahlen können“, sagt die 14-Jährige. In den Spitzenzeiten hätten an den unangemeldeten Montagsdemos in Freiberg bis zu 3000 Menschen teilgenommen, berichten zwei Polizisten, inzwischen sei die Anzahl auf einen „harten Kern“ von 50 bis 100 Leuten geschrumpft. Nicht nur hier, auch in anderen sächsischen Städten gehen jeden Montag Menschen auf die Straße, um ihrem Ärger Luft zu machen.

AfD und CDU liefern sich in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen

In der Menge läuft ein unauffälliger, älterer Herr – ohne Plakat oder sonstige politische Botschaft. Er heiße Bernd, ist 70 Jahre alt, im Ruhestand. „Die ganze Wirtschaft geht den Bach runter, man kann sich ja nicht mehr leisten, in der Gaststätte zu essen. Die Rentner müssen Flaschen sammeln, es werden Waffen an die Ukraine geliefert“, beschwert er sich. Sein Eindruck: „Die machen Politik gegen das eigene Volk“. Mit „die“ meint er die Ampel-Regierung in Berlin, „die wollen wir weg haben“. Deshalb laufe er hier mit. Wer stattdessen regieren sollte? Keine Partei wird es wohl besser machen, sagt er, um wenig später hinzuzufügen: „Ich wähle die AfD, es muss mal eine Veränderung her.“

Die rechtspopulistische Partei, deren Landesverband in Sachsen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, liefert sich in den Umfragen mit der CDU ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Eineinhalb Wochen vor der Landtagswahl liegt mal die AfD vorn, mal die CDU, beide kommen auf um die 30 Prozent. Dahinter folgt Sahra Wagenknechts Bündnis BSW (13 Prozent). Die Ampel-Parteien SPD, Grüne (beide um die fünf Prozent) und FDP (zwei Prozent) bangen um den Einzug ins Parlament. Da keine Partei mit der AfD koalieren möchte, ist eine weitere Amtszeit von Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) das wahrscheinlichste Szenario für den Freistaat. Derzeit regiert in Sachsen eine Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grüne. Welches Bündnis wird folgen?

„Kretschmer ist einer der Vernünftigen, die für einen Mittelweg stehen“

„Ich halte Kretschmer für verlogen“, schimpft Hans-Jürgen Bernauer: „Er quatscht nur von Grenzkontrollen, aber setzt sie nicht um.“ Der Schutz der Grenzen zu Polen und Tschechien gegen irreguläre Migration treibt viele Sachsen um – und ist auch Thema bei einer Wahlkampfveranstaltung des Ministerpräsidenten in der Nähe von Meißen, 45 Autominuten nördlich von Freiberg. Warum die CDU erst jetzt den Grenzschutz fordere, will ein älterer Herr wissen und konfrontiert Kretschmer mit seinem härtesten Konkurrenten im Wahlkampf: „Das wurde doch von der AfD schon vorgeschlagen.“ Der Ministerpräsident verteidigt sich: „Wir haben vor fünf Jahren gesagt, dass wir 1000 zusätzliche Polizisten brauchen. Und mit dem jetzigen Personal machen wir eine Grenzpolizei.“

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) wird von einem älteren Herr mit einer Frage konfrontiert. Foto: STZN/Dürr

Recht und Ordnung – damit wirbt der CDU-Politiker auf den Wahlplakaten. „Kriminelle hassen die CDU“, steht auf einem. Ein junger Mann, der aus Dresden zu Kretschmers Auftritt gekommen ist, sagt über ihn: „Er ist einer der Vernünftigen, die für einen Mittelweg stehen.“ Den Frust und die Unzufriedenheit vieler Sachsen führt er auf Entscheidungen der Ampel-Regierung zurück. Aber dann gleich Extreme zu wählen? Die AfD ist für ihn keine Alternative.

„Nicht Migration ist das Problem, sondern der Rechtsradikalismus“

Deren Spitzenkandidat Jörg Urban will Kretschmers Nachfolger werden und tritt am selben Tag in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Bautzen in der Oberlausitz auf – bei einem Wahlforum des Dachverbands der Sorben, einer sprachlichen Minderheit in Sachsen. Als vor dem Gebäude eine ältere Frau mit ihrem Enkel erfährt, dass heute im Ort auch jemand von der AfD anwesend ist, zeigt sie mit ihrem Daumen nach oben. „Es muss sich was ändern“, sagt sie und schimpft vor sich hin: „Immer dieser Zank in der Regierung.“

AfD-Spitzenkandidat in Sachsen: Jörg Urban (links) im Gespräch mit einem Bürger. Foto: STZN/Dürr

Im Gebäude sehen sie die AfD kritischer. Bei einer Fragerunde meldet sich Dawid Statnik, der Vorsitzende des sorbischen Verbands: „Herr Urban, nicht Migration ist das Problem hier, sondern der wachsende Rechtsradikalismus. Was machen Sie dagegen?“ Der AfD-Politiker findet die Frage unangemessen: „Von Ihnen als Veranstalter und CDU-Mitglied würde ich mir mehr Neutralität wünschen“, sagt Urban und ergänzt, dass Gewalt in der politischen Auseinandersetzung nichts zu suchen habe.

Anfeindungen, zerstochene Reifen, eine Morddrohung

Eine unbefriedigende Antwort für einen der Anwesenden: Der ehemalige Oberbürgermeister von Bautzen, Alexander Ahrens (SPD), betont, dass er nicht bekannt sei für „AfD-Bashing“, aber er fordert die rechtspopulistische Partei auf, „verbal abzurüsten“. Später erzählt er, wie er während seiner Amtszeit unter der aufgeheizten politischen Stimmung gelitten habe: Anfeindungen, zerstochene Reifen, eine Morddrohung. An diesem Klima habe auch die AfD ihren Anteil, sagt Ahrens. Dort ist man von diesen Vorwürfen genervt, Urban möchte nach der Veranstaltung nicht über die geäußerte Kritik sprechen: „Das ist Wahlkampf, das interessiert mich nicht.“ Er will sich lieber anderen Themen widmen, die die Sachsen beschäftigten: Unterrichtsausfall sei ein riesen Thema, sagt Urban, sowie die Auswirkungen „offener Grenzen“ und „der wirtschaftliche Niedergang“.

Teilnehmer der Montagsdemos und Landrat treffen sich zum Gespräch

Die politische Stimmung im Freistaat treibt viele um, vor allem jene, die sich politisch engagieren. „Man ist als Mandatsträger zum Freiwild geworden“, sagt Dirk Neubauer (parteilos) in einem Video zu seinem Rücktritt als Landrat im Kreis Mittelsachsen – nach nur zwei Jahren im Amt. Unter anderem Anfeindungen von Rechtsextremen hätten ihn dazu bewegt. Er sei nicht der einzige Betroffene, weiß er aus Gesprächen mit anderen Lokalpolitikern. Aussagen wie „Das müssen Sie aushalten“ schockieren ihn: „Diese Verrohung der Debatte, was mittlerweile als normal gilt“, sagt Neubauer. Bei der Montagsdemo in Freiberg ist er auf einem der Plakate zu sehen: In Häftlingskleidung, dazu ein roter Balken mit der Aufschrift „Schuldig“.

Dirk Neubauer tritt als Landrat in Mittelsachsen zurück – nach nur zwei Jahren im Amt. Foto: Landratsamt Mittelsachsen/Lutz Weidler

In der Stadt hat Neubauer sein Büro im Landratsamt. Mehrmals habe er Teilnehmer der Montagsdemo zum Gespräch getroffen – vergeblich: „Die sagen, sie wollen den Rechtsstaat in Ordnung bringen – gehen raus und melden ihre Veranstaltung nicht an, ignorieren geltendes Recht“, sagt der 53-Jährige. Warum er zum Feindbild wurde? „Weil ich für Veränderung stehe.“

„Freiberg für alle“ will Spaltung in der Gesellschaft überwinden

Nicht nur in Sachsen, in ganz Ostdeutschland seien viele „veränderungsmüde“, sagt er. „Es geht nicht um die Solarplatte, das Windrad oder wer zu uns kommt, sondern darum, dass jetzt mal Schluss ist mit Veränderung“. Natürlich würden sich viele auch engagieren, aber die Masse finde eher den Anschluss „im Dagegen“, sagt Neubauer: „Das ist bequem, da muss ich nicht sagen, wie es geht.“ Ein leichtes Spiel für Populisten.

Stefan Benkert engagiert sich im Bündnis „Freiberg für alle“. Foto: privat

Deshalb fordert der Landrat mehr Präsenz der stillen Mehrheit. „Freiberg für alle“ heißt das Bündnis, das dieser Gruppe bereits seit 2019 ein Gesicht gibt – und die Spaltung in der Gesellschaft überwinden will. „Wir lieben Freiberg, Sachsen ist unser Zuhause“, heißt es in ihren Grundsätzen. Die Mitglieder vertreten unterschiedlichste politische Richtungen – von links bis konservativ. Unter ihnen ist Stefan Benkert, der mit seinen Mitstreitern bis zur Landtagswahl noch möglichst viele zum Wählen motivieren möchte. Für den 1. September hofft er, dass „die Vernunft doch siegt“.