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Nun hat er also zugeschlagen, der Nichtwähler: Mit etwa 72 Prozent lag die Beteiligung so niedrig wie noch nie bei Bundestagswahlen. Politologen warnen vor vorschnellen Urteilen und einem Abgesang auf die demokratische Kultur.

Berlin - Nun hat er also zugeschlagen, der Nichtwähler: Mit etwa 72 Prozent lag die Beteiligung so niedrig wie noch nie bei Bundestagswahlen. Politologen warnen vor vorschnellen Urteilen und einem Abgesang auf die demokratische Kultur.

Die Ergebnisse, die Sitzverteilung und weitere Infos in unserem Wahl-Special

Wie lang wird der Balken sein? Bei der Wahlparty am Berliner Pfefferberg ist es nicht viel anders als bei den anderen Partys: Gebannt schauen die Gäste auf die Fernsehübertragung mit den ersten Hochrechnungen. Noch nie seien sie so stark gewesen, sagt ARD-Moderator Jörg Schönenborn kurz nach 18 Uhr. Kurt Wilhelmi nickt anerkennend. Dann wird erst mal gerechnet. Langsam sickert das Ausmaß des Erfolgs durch. Der 48-jährige Wilhelmi ist schließlich selbst überrascht: "Boah, das ist ja Wahnsinn." Ja, sie sind die stärkste Kraft bei dieser Bundestagswahl geworden - die Nichtwähler. Denn eines ist tatsächlich anders bei dieser Wahlparty in der Lobby eines Jugendhotels im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg: Die hier Versammelten haben zum größten Teil heute nicht gewählt. Nicht weil sie nicht hätten können, sondern weil sie nicht wollten. Sie sind überzeugte Nichtwähler.

Fast 28 Prozent aller Wahlberechtigten sind bei dieser Bundestagswahl nicht zur Urne geschritten, vor vier Jahren waren es noch weniger als 23 Prozent. Damals waren sie drittstärkste Kraft nach Union und SPD. Jetzt sind sie die stärkste. Denn betrachtet man nicht den Anteil an der Zahl der abgegebenen Stimmen, sondern an der Zahl der Wahlberechtigten, kommt die CDU gerade mal auf 24 Prozent, die SPD auf 17 Prozent. Schwarz-Gelb konnte ganze 35 Prozent der Wahlberechtigten mobilisieren.

Die Entwicklung sei zwar unschön, aber nicht dramatisch, so die Politikwissenschaftler Werner Patzelt, Heinrich Oberreuter und Lothar Probst am Sonntagabend. "Das gefährdet aber noch nicht die Demokratie", sagt der Bremer Politologe Probst zu dem Abwärtstrend. Die Parteien sollten dies ernst nehmen, könnten aber mit guter Politik die Wähler auch überzeugen, "dass Wählen einen Unterschied macht". Im internationalen Vergleich sei eine Wahlbeteiligung über 70 Prozent immer noch annehmbar, im deutschen Kontext allerdings sei sie "diskussionsbedürftig", findet Oberreuter, Direktor der Akademie für politische Bildung in Tutzing. Immer weniger Menschen trauten den Parteien die Lösung von Problemen zu. Entscheidend für die Umkehr des Trends seien deshalb sichtbare Erfolge von Regierungsarbeit statt der Vertagung von Problemen.

Nichtwähler: Politikverdrossen, unpolitisch, desinteressiert, so werden sie häufig beschrieben. Doch viele von ihnen sind mit dieser Charakterisierung nicht einverstanden. Zum Beispiel Wilhelmi, der Leiter des Berliner Büros der Initiative Omnibus für Direkte Demokratie in Deutschland, eines der Veranstalter der Nichtwählerparty. Ihm und seinen Mitstreitern geht es vor allem um ein Ziel: mehr direkte Demokratie. In einer großangelegten Kampagne haben sie etwa deutschlandweit darüber informiert, welche Direktkandidaten für Volksentscheide auf Bundesebene eintreten - und zu deren Wahl aufgerufen.

Erst am Samstag hatte eine Studie von Infratest-Dimap ergeben, dass die voraussichtlichen Nichtwähler nicht verdrossen von der Demokratie seien. Nur 16 Prozent der Befragten halten demnach Wahlen generell für überflüssig, lediglich 33 Prozent interessierten sich nicht für Politik.

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Von der "Alle-vier-Jahre-Stimme-wieder-weg-Demokratie" spricht Wilhelmi - und sieht die Mehrheit der Nichtwähler hinter sich. "Auch wer es einfach formuliert und sagt, es ändert sich doch eh nichts, der will nur nicht einen Zustand legitimieren, wo er nichts zu sagen hat." Den Nichtwählern gehe es einfach nur darum, den Parlamentariern keinen Blankoscheck für vier Jahre auszustellen. Gebe es erst mal die Möglichkeit eines bundesweiten Volksentscheids, sagt Wilhelmi, könne der Wähler auch guten Gewissens wieder seine Stimme geben - "weil er sie zu jeder Zeit auch wieder ergreifen kann".