Zeichen für eine wache und engagierte Kommune: auch das Goldgelb-Musikfestival, hier im Jahr 2011, verdankt sich dem Aichwalder Sinn für das Gemeinwesen. Foto: Rudel/Archiv

In der Kommune im Kreis Esslingen ist die Wahlbeteiligung in der Regel überdurchschnittlich hoch. Ein Erklärungsversuch.

Aiwald - Am 27. März 2011 ist ganz Aichwald auf den Beinen gewesen. 80,6 Prozent aller Wahlbeteiligten machten sich auf, um für den neuen Landtag ihr Kreuzchen zu machen. Damit hat die 7500 Einwohner zählende Schurwaldgemeinde im Kreis Esslingen innerhalb der Region Stuttgart den Spitzenplatz geschafft. Und auch landesweit sind die wahlwachen Aichwalder vorne dabei. Ihr Ort gehört zu den fünf der insgesamt 1101 Gemeinden in Baden-Württemberg, in denen mehr als 80 Prozent der    Wahlberechtigten ihr Stimmrecht nutzten.

Nur: anders als bei den anderen vier Spitzenreitern ist das Aichwalder Ergebnis für den Ort nichts Ungewöhnliches. Bei Bundestagswahlen kann die Wahlbeteiligung schon auch mal an der 90-Prozent-Marke kratzen. Selbst bei Bürgermeisterwahlen ohne echte Auswahl macht man sich in den Teilorten Aichelberg, Aichschieß, Krummhardt, Lobenrot und Schanbach vergleichsweise eifrig auf den Weg. Der amtierende Schultheiß Nicolas Fink (SPD) wurde vor zwei Jahren bei einer Wahlbeteiligung von 44,3 Prozent von 2619 Aichwaldern (96,5 Prozent) wiedergewählt, trotzdem nur ein Spaßkandidat gegen ihn angetreten war.

Hohe Wahlbereitschaft

Davon kann Werner Spec beispielsweise nur träumen. Der Oberbürgermeister des mit fast 92 000 Einwohnern ungleich größeren Ludwigsburg bekam nur gut dreieinhalbmal so viel Stimmen (9461) wie Fink. Nur jeder Fünfte machte sich damals überhaupt die Mühe zu wählen, obwohl Spec als ebenso engagierter wie gestrenger Rathauschef eine beeindruckende Bilanz vorzuweisen hatte. Spec’ Waiblinger Amtskollege Andreas Hesky ging es Ende 2013 nicht besser: Dort konnte sich nicht einmal jeder fünfte Wahlberechtigte aufraffen.

Woran liegt das? In Aichwald seien es offenkundig „nicht einzelne Ereignisse, die die Wähler mobilisierten“, sagt Angelika Vetter, Professorin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart, „sondern strukturelle Faktoren“. Bei der vergangenen Landtagswahl hatten dagegen auf Landesebene vor allem der Streit über Stuttgart 21 und der schwere Atomunfall im japanischen Fukushima nur 16 Tage vor der Stimmabgabe zum Wählen motiviert. Die Wahlbeteiligung lag damals bei 66,3 Prozent und damit immerhin 13 Prozentpunkte über der Beteiligung im Jahr 2006.

Die Politikwissenschaftlerin zitiert das sogenannte „Civic Voluntarism Model“, das drei Gründe für die Nicht-Partizipation von Bürgern formuliert: Weil sie nicht wollen, weil sie nicht können, weil sie nicht gefragt wurden. In Orten mit starker Sozialstruktur, guter Einkommenssituation und relativ hohem Bildungsniveau gebe es auch eine ausgeprägtere Wahlbereitschaft.

Das Ehrenamt schweißt zusammen

Wie in Aichwald. In der 1974 aus fünf Dörfern gebildeten Reformkommune scheinen denn auch viele zu wollen, zu können oder sich gefragt zu fühlen. „Bei uns gibt es ein hohes ehrenamtliches Engagement und viele, die sich politisch engagieren“, so erklärt es der Bürgermeister Fink und verweist auf die 45 Aichwalder Vereine und Organisationen. Der Kulturverein Krummhardt, ein Weiler mit 760 Einwohnern, hat zum Beispiel eigenen Angaben zufolge gut 500 Mitglieder und stellt alle zwei Jahre das fünftägige Musikfestival Goldgelb auf die Beine. Es gibt auch einen Bürgerbusverein und einen Laden, der das Notwendigste verkauft und einmal im Monat zum Dorfkino umfunktioniert wird.

Hinzu kommen eine ältere Bevölkerung und eine eher konservative Prägung. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes sind mittlerweile 26,8 Prozent der Aichwalder 65 Jahre alt und älter. Vor 20 Jahren war der Anteil der über 65-Jährigen noch nicht einmal halb so groß (12,3 Prozent). Ältere Menschen fühlten sich eher als junge Leute an die Wahlnorm „Wählen ist Bürgerpflicht“ gebunden, erklärt Angelika Vetter. Und treue CDU-Wähler, wie sie in Aichwald daheim sind, sind in der Regel auch fleißige Urnengänger.

„Man schwätzt einfach miteinander“

Der CDU-Fraktionschef Volker Haug ist 1994 vor der Geburt des ersten der drei Kinder von Esslingen nach Aichwald gezogen. „Ich habe gedacht, hier auf dem Land werden wir wohl erst in der dritten Generation richtig dazugehören“, erzählt er. Wenige Wochen später fand eine Straßenhocketse statt, „nach dem Abend waren wir mit allen per Du“. Schon fünf Jahre später wurde er auf Anhieb in den Gemeinderat gewählt. Und als alle drei Kinder in Esslingen aufs Gymnasium gingen, habe er einen Rückzug in die Kreisstadt vorgeschlagen, sehr zur Entrüstung der Sprösslinge: Die hätten ihm den Vogel gezeigt, erzählt er.

Auch sein Gemeinderatskollege Michael Neumann von der SPD lobt die dörfliche Gemeinschaft. „Man schwätzt einfach miteinander“, sagt er. Der Slogan des Ortes „Immer auf der Höhe“ sei durchaus Ausdruck des Aichwalder Bewusstseins, „dass wir etwas Eigenes sind“. Wer dieses Selbstverständnis inhaliert hat, der bestimmt bei Wahlen selbstverständlich mit.