Die Türkei hat ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten gewählt. Wahlbeobachter melden Unregelmäßigkeiten. Foto: AP

Die Wahlen in der Türkei sind beendet, die Wahllokale haben geschlossen. Präsident Erdogan spricht von einer „demokratischen Revolution“. Erdogan und die AKP führen nach ersten Teilergebnissen.

Istanbul - Die Türkei hat ein neues Parlament und einen künftig deutlich mächtigeren Präsidenten gewählt. Die Wahllokale schlossen am Sonntag um 16 Uhr MESZ (17 Uhr Ortszeit). Mit den Wahlen wurde die Einführung des von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan angestrebten Präsidialsystems abgeschlossen. Der neue Präsident wird Staats- und Regierungschef und ist mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Einen Ministerpräsidenten gibt es künftig nicht mehr. Erdogan ging als Favorit in die Wahl. Wahlbeobachter meldeten Unregelmäßigkeiten.

Umfragen zufolge könnte Erdogan bei der Präsidentschaftswahl die absolute Mehrheit verfehlt haben. Dann müsste er am 8. Juli in die Stichwahl. Sein Gegner wäre dann aller Voraussicht nach Muharrem Ince, der Kandidat der Mitte-Links-Partei CHP, der größten Oppositionspartei. Auch die absolute Mehrheit von Erdogans islamisch-konservativer AKP im Parlament könnte gefährdet sein, sollte die pro-kurdische HDP die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen haben.

Bei Auseinandersetzungen während der Wahlen wurde ein Oppositionspolitiker getötet. Dabei handele es sich um den Bezirksvorsteher der national-konservativen Iyi-Partei in der osttürkischen Provinz Erzurum, teilte Generalsekretär Aytun Ciray am Sonntag auf Twitter mit. Nach ersten Erkenntnissen habe es sich um einen Streit zwischen zwei Familien gehandelt. Ermittlungen hätten begonnen. Weitere Details waren zunächst nicht bekannt.

Im Video sehen Sie, was sich die Türken in Stuttgart wünschen:

Erdogan unterstrich nach der Abgabe seiner Stimme in Istanbul die Bedeutung der Wahlen. „Im Moment durchlebt die Türkei mit dieser Wahl regelrecht eine demokratische Revolution“, sagte er. Ince schrieb am Sonntag auf Twitter: „Was sie auch tun, sie werden verlieren. Die Zeiten, in denen mit Betrug und Schwindeleien Wahlen gewonnen wurden, sind nun vorbei. (...) Ich werde Eure Stimmen mit meinem Leben verteidigen, wir werden es schaffen.“

Ince rief die Mitarbeiter der Wahlkommission auf: „Erfüllt Eure Aufgabe richtig, wie es sich gehört. Erfüllt sie, indem Ihr Euch an die Gesetze und die Verfassung haltet. Seid niemandes Marionette. Lasst Euch von niemandem verunsichern. Fürchtet Euch vor niemandem.“ Er fügte hinzu: „Wir wollen einen fairen Wettkampf. Wir wollen einen korrekten Wettkampf. Und ich will bloß nicht, dass es bei dem Ergebnis, das herauskommt, zu Ausschreitungen kommt.“

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Ince rief seine Anhänger nach Schließung der Wahllokale dazu auf, sich nicht von zunächst oftmals hohen Teilergebnissen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu für Erdogan „in die Irre führen“ zu lassen. Anadolu wollte spätestens von 21 Uhr an (20 Uhr Ortszeit) Teilergebnisse veröffentlichen, die mit fortschreitender Auszählung belastbarer werden. In der Vergangenheit startete Erdogans Lager mit großem Vorsprung, der dann kleiner wurde.

Ungewöhnlich großer Andrang

Experten bemängelten, dass dadurch Wahlbeobachter der Opposition bei der Auszählung der Stimmen entmutigt würden und womöglich frühzeitig nach Hause gingen. Ince forderte Wahlbeobachter dazu auf, unbedingt bis zum unterschriebenen Ergebnisprotokoll bei den Urnen zu bleiben.

Drei Deutsche, die auf Einladung der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP die Wahl beobachten wollten, wurden bei der Wahl festgenommen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wurden die beiden Männer aus Köln und die Frau aus Halle in Sachsen-Anhalt in Uludere in der südosttürkischen Provinz Sirnak von der Polizei festgenommen. Das Auswärtige Amt in Berlin bestätigte die Festnahme.

Wahlbeobachter meldeten besonders aus dem Südosten der Türkei Unregelmäßigkeiten. CHP-Sprecher Bülent Tezcan, sagte, in der südöstlichen Provinz Sanliurfa sei am Sonntag versucht worden, Wahlbeobachter mit „Schlägen, Drohungen und Angriffen“ von den Urnen fernzuhalten. Im Bezirk Suruc in Sanliurfa „laufen bewaffnete Personen ganz offen herum“. Auch die regierungskritische Wahlbeobachter-Plattform dokuz8haber berichtete über Unregelmäßigkeiten in Sanliurfa und in anderen Provinzen.

Der deutsch-türkische Grünen-Politiker Öcan Mutlu, der die Wahl inoffiziell an der Westküste in der Region um Izmir beobachtete, sprach von einem ungewöhnlich großen Andrang an den Wahlurnen. „Es gab schon seit den frühen Morgenstunden überall Schlangen“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Außer „einzelnen Wortgefechten“ habe er keine Zwischenfälle oder Unregelmäßigkeiten festgestellt. Insgesamt beschrieb der frühere Bundestagsabgeordnete die Stimmung in der Türkei aber als aggressiver als bei früheren Wahlen.

Knapp 60 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen – drei Millionen im Ausland

Mutlu erklärte das mit den Umfragen, nach denen eine Wiederwahl Erdogans unsicher ist und die Mehrheit seiner AKP wankt. „Da, wo ich unterwegs gewesen bin, herrscht eine regelrechte Wechselstimmung.“ Die Gegend, in der Mutlu beobachtete, ist eine Hochburg der CHP.

Knapp 60 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen. Mehr als drei Millionen davon leben im Ausland. Neben Erdogan bewarben sich fünf Politiker um das Präsidentenamt, darunter neben Ince der inhaftierte HDP-Kandidat Selahattin Demirtas. Die Opposition warnte vor einer „Ein-Mann-Herrschaft“ Erdogans. Die Einführung des Präsidialsystems ist sein wichtigstes politisches Projekt.

Die Opposition hat die Rückkehr zum parlamentarischen System versprochen. Dafür wäre allerdings eine erneute Verfassungsänderung notwendig. Die Opposition will außerdem den Ausnahmezustand aufheben. Ince kündigte bei seiner letzten Wahlkampfrede vor Hunderttausenden Anhängern eine grundlegende Erneuerung des Landes an.