Martin Schairer (2. v. re.) und Thomas Schwarz (3. v. re.) bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses Foto: Leif Piechowski

Mit interaktiver Grafik - Das Erschrecken über die historisch niedrige Beteiligung der Stuttgarter an der Gemeinderatswahl 2014 war groß. Es hält noch an. Man dürfe nicht zur Tagesordnung übergehen, meint der katholische Stadtdekan Christian Hermes. Und nicht nur er.

Stuttgart - Kann die kommunale Demokratie unter solchen Verhältnissen noch auf Dauer funktionieren? Und werden sich die Bürger vom gewählten Gemeinderat auch nur ansatzweise vertreten fühlen? Besorgte Geister stellen zurzeit solche Fragen, weil die Beteiligung an der Gemeinderatswahl in Stuttgart am 25. Mai denkbar schlecht war.

Wenig Lust auf Wählen

In manchen Stadtbezirken von Stuttgart ging fast nur noch jeder Dritte an die Urne. Schlimmer noch: In einzelnen Wahlbezirken, in denen die Wahlberechtigten schon früher durch geringe Beteiligung aufgefallen waren, fand sich fast nur noch jeder Vierte zum Wählen der Stadträtinnen und Stadträte bereit. Dabei treffen diese fünf Jahre lang wichtige Entscheidungen über die Lebensumstände der gut 590 000 Stuttgarter.

Auf unserer Grafik können Sie die Wahlbeteiligung in den einzelnen Stadtbezirken einsehen

Von den Bürgern rund um die Raichberg-Realschule im Stuttgarter Osten beispielsweise gingen 24 Prozent ins Wahllokal. Im Süden von Zuffenhausen waren es noch ein bisschen weniger – ohne Briefwahl. In ganz Stuttgart betrug die Wahlbeteiligung 46,6 Prozent mit Briefwahl. Nie war in Stuttgart die Quote bei einer Gemeinderatswahl niedriger – und auch sonst nur bei der OB-Wahl 2004, als Wolfgang Schuster (CDU) sich um eine zweite Amtsperiode bewarb.

Ruf nach Konsequenzen

Prompt ist der katholische Stadtdekan Christian Hermes besorgt. Die schlechteste Wahlbeteiligung bei einer Kommunalwahl in Stuttgart seit 1946 müsse alle Demokraten sehr nachdenklich machen, meint Hermes. Schon im Juni schrieb er an alle neu gewählten Stadträtinnen und Stadträte, um ihnen zu gratulieren und einen Appell an sie zu richten: Nach diesem Zeichen für Desinteresse, Nichtidentifikation und Enttäuschung über Politik oder Politiker durch die Hälfte der Bevölkerung sollten die Stadträte „und wir alle nicht ins Tagesgeschäft übergehen“. Die Bürgergesellschaft lebe vom Dialog und vom immer neuen Bemühen um Verständnis und Verständigung.

Auch Martin Körner, Neu-Stadtrat und neuer Fraktionschef der SPD im Gemeinderat, ist alarmiert. „Wir können das nicht einfach so laufen lassen“, warnt er, „wenn wir nicht aufpassen, erhalten wir eine sozial gespaltene Demokratie.“ Soll heißen: äußerst geringe Mitwirkung und geringes Interesse in Stadtbezirken wie Wangen und Zuffenhausen, größere Mitwirkung in Bezirken wie Sillenbuch und Degerloch. Auf einem anderen Feld gibt es solche Unterschiede auch: hier tendenziell weniger Wohlstand und weniger Bildung, dort eine wohlhabendere und besser gebildete Bevölkerung.

Einen Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Wahlbeteiligung könne man durchaus annehmen, sagt Michael Haußmann vom Statistischen Amt der Stadt. Aber warum die Nichtwähler nicht an die Urne wollen, wisse man nicht. Schon in Bezirken mit schwacher Beteiligung wie Wangen gebe es erhebliche Unterschiede. Mit Vermutungen komme man nicht weiter. Man dürfe nicht einfach alles über einen Kamm scheren, sagt Haußmann. Das bestätigt sich auch prompt, wenn man die Wahlbeteiligung näher untersucht.

Unionsbürger senken Quote

Von den Stimmberechtigten mit deutschem Pass hätten sich am 25. Mai 54,1 Prozent beteiligt, sagt Haußmann. Das ist zwar nicht Spitze, aber liegt in etwa auf dem Niveau der durchschnittlichen Wahlbeteiligungen bei den Gemeinderatswahlen 1999 (50,1 Prozent), 2004 (52,3 Prozent) und 2009 (53,7 Prozent). Im Lauf der Zeit sind die in Stuttgart lebenden Bürger von anderen EU-Staaten, die bei der Gemeinderatswahl mitwirken dürfen, aber immer zahlreicher geworden, weil die EU weitere Mitgliedstaaten aufnahm.

Zugleich ging die Wahlbeteiligung der Unionsbürger zurück. Rund 65 000 durften am 25. Mai mitwählen, aber nur 11,4 Prozent hätten das getan, sagt Haußmann. Das Resultat: Die Unionsbürger senkten die durchschnittliche Wahlbeteiligung in Stuttgart um fast acht Prozent. Dagegen haben sich die 16- bis 18-Jährigen nicht als wahlmüde erwiesen – zumindest nicht im befürchteten Maß. Bei der Gruppe U 18 habe die Beteiligung immerhin 41 Prozent erreicht, sagt Haußmann. Insofern könne man die vielfältigen Bemühungen, nach der Senkung des Wahlalters die Allerjüngsten an die Urnen zu locken, vielleicht doch als erfolgreich einstufen. Bleibt die Frage, wie mehr Wähler mobilisiert werden könnten.

Verbände sind gefordert

Für die Stadtverwaltung verbiete es sich, auf einzelne Bevölkerungsgruppen zuzugehen, wenn man von den unter 18-Jährigen einmal absehe, meint Haußmann. Denn mit einzelnen Gruppen werden bestimmte Parteipräferenzen verbunden. Daher könnte die Verwaltung in den Verdacht geraten, ihre parteipolitische Neutralität zu verraten. Haußmann würde es besser finden, wenn sich Verbände und Kirchen stärker um die Wahlteilnahme bemühen. Allerdings sei gerade im Bereich von Migrantenorganisationen in der Vergangenheit viel geschehen. Die Krux: Auch in dieser Bevölkerungsgruppe gibt es in der Großstadt einen starken Wechsel. Und zumindest in den ersten zwei bis drei Jahren am neuen Wohnort verbinden die Bürger oft nicht viel mit der Kommunalpolitik und den Kommunalpolitikern.

„Ich könnte mir vorstellen, dass man das Problem geringe Wahlbeteiligung bei den regelmäßigen Bürgerumfragen ausleuchtet“, meint Hermann Karpf, Mitarbeiter von Ordnungsbürgermeister und Kreiswahlleiter Martin Schairer (CDU). Michael Haußmann vom Statistischen Amt befürwortet das. Mit Hilfe der Bürgerumfrage eine „Nichtwähler-Analyse“ vorzunehmen und kommunalpolitisches Interesse abzufragen biete sich nach einigen Jahren Pause wieder einmal an. S

PD-Fraktionschef Martin Körner hält außerdem mehr Aufklärung der Unionsbürger durch die Stadtverwaltung für notwendig. Manch einer sei von der Nachricht überrascht worden, dass er sich nach dem Zuzug um die Eintragung ins Wählerverzeichnis hätte kümmern müssen. Darüber hinaus möchte er auch seine Parteifreunde mehr in die Problemzonen der Stadt entsenden: „Lieber eine Arbeitskreissitzung weniger und ein Fest im Raitelsbergviertel im Osten besuchen.“ Die Wahlbeteiligung zu heben ist ja auch noch im Interesse der SPD: Einige Gebiete mit schwacher Wahlbeteiligung sind frühere SPD-Reviere.