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Jeder 60. deutsche Wahlberechtigte leidet an Demenz. Doch sind Alzheimer-Patienten mit fortschreitender Erkrankung in der Lage, ihre Stimme abzugeben? Das Wahlrecht ist eindeutig.

Stuttgart - Jeder 60. deutsche Wahlberechtigte leidet an Demenz. Doch sind Alzheimer-Patienten mit fortschreitender Erkrankung in der Lage, ihre Stimme abzugeben? Das Wahlrecht ist eindeutig: Wer für einen Dementen das Kreuz auf dem Wahlzettel setzt, macht sich strafbar.

Nur noch fünf Tage bis zur Bundestagswahl. Die Parteien mobilisieren die letzten Reserven, um Unentschlossene und Wechselwähler für sich zu gewinnen. Auch Deutschlands Alten- und Pflegeheime bereiten sich auf den Urnengang vor. So werden in den 21 Seniorenresidenzen der Augustinum-Gruppe alle rund 7000 Bewohner auf die Wahl hingewiesen - auch die rund 300 Demenzkranken. Es werden Hol- und Bringdienste eingerichtet, wenn sich das Wahllokal nicht - wie im Fall des Wohnstifts in Stuttgart-Sillenbuch - im Haus befindet. "Wer aus eigener Kraft das Wahllokal nicht erreichen kann, wird auf eigenen Wunsch von uns dort hingebracht", sagt Matthias Steiner, Sprecher der Augustinum-Gruppe. "Aber nur bis zur Wahlkabine - am Wahlakt selber nehmen wir natürlich nicht teil."

Von den 62 Millionen Wählern, die am 27.September zur Stimmabgabe aufgerufen sind, leidet laut der Deutschen Alzheimergesellschaft jeder 60. an einer Demenzerkrankung. 1,2 bis 1,5 Millionen Wähler sind also von fortschreitenden degenerativen Veränderungen des Gehirns betroffen. "Die Dunkelziffer liegt sicherlich noch viel höher", sagt Elisabeth Stechl von der Universitätsklinik Charité in Berlin.

Demenz hat viele Gesichter - Alzheimer ist das bekannteste. Die Krankheit ist zum Inbegriff für langsames Dahinsiechen geworden. Mehr als 800.000 Menschen leiden hierzulande an Morbus Alzheimer. Die geistige Leistungsfähigkeit verfällt, und das Gedächtnis, das räumliche Orientierungsvermögen und die Sprache lassen mehr und mehr nach. Alltägliche Dinge wie Kochen, Einkaufen oder Waschen werden zunehmend unmöglich. Plötzlich fehlen die Worte, der Umgang mit Zahlen fällt schwer, persönliche Dinge werden verlegt. Auch die Persönlichkeit verändert sich. Abrupte, scheinbar grundlose Stimmungsschwankungen geben Angehörigen Rätsel auf. Die ärztliche Diagnose bestätigt schließlich den schrecklichen Verdacht: Demenz.

Dass pflegebedürftige Menschen und Demenzkranke wählen gehen dürfen, steht juristisch außer Frage. Nach dem Bundeswahlgesetz seien alle Deutschen über 18 Jahren wahlberechtigt, solange ihnen das Wahlrecht nicht aberkannt worden sei, erklärt ein Mitarbeiter des Bundeswahlleiters in Wiesbaden. Dies geschehe bei Kapitalverbrechen wie Mord oder einer Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik.

Das Wahlrecht ist ein Persönlichkeitsrecht und kann deshalb weder übertragen noch stellvertretend ausgeübt werden. Auch eine wohlmeinende Ehefrau, die im Sinne ihres Mannes ein Kreuz auf dem Briefwahlzettel macht, verstößt de facto gegen das Gesetz. Wahlmanipulationen sind strafbar und können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden.

Demenz ist kein Grund zum Ausschluss der Wahlberechtigung

"Das Vorliegen einer Demenzerkrankung ist grundsätzlich kein Grund, der zum Ausschluss von der Wahlberechtigung führt", erklärt die Rechtsanwältin Bärbel Schönhof aus Bochum. Jedoch könne den Betroffenen das Wahlrecht aberkannt werden, wenn ein Vormundschaftsgericht eine Betreuung anordnet, die "alle Angelegenheiten" umfasst. Die zuständige Wahlbehörde müsse darüber informiert werden, damit derjenige aus dem Wählerverzeichnis gestrichen wird und keine Wahlbenachrichtigung erhält.

Das Bundeswahlrecht ist in der Frage, ob Demenzkranke ihr Wahlrecht ausüben dürfen, sehr allgemein. "Es gibt keine festgelegte Grenze, die besagt, wann jemand noch wissentlich wahlfähig ist oder nicht", betont Markus Frank, Mitarbeiter im Büro des niedersächsischen Landeswahlleiters. "Wer im Wählerverzeichnis steht und selbstbestimmt seinen Wahlschein in der Kabine ausfüllen kann, der darf seine Stimme auch in die Wahlurne werfen."

Die Grenzen sind allerdings fließend. Ob Äußerungen wie "Ich wähle wieder die SED" oder "Ich mach' mein Kreuz bei Adenauer" einen Demenzkranken für die Stimmabgabe disqualifizieren, haben weder die Angehörigen noch das Pflegepersonal zu entscheiden. "Irgendwann kann ein Demenzkranker mit einem Wahlzettel nichts mehr anfangen", sagt Hans-Jürgen Freter, Sprecher der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft in Berlin. Aber es gebe keine klaren Kriterien oder psychologisch-kognitive Tests, mit den man feststellen könne, ab welchem Punkt man nicht mehr wählen darf. Dass es zu "massenhaftem Missbrauch und Wahlbetrug" kommt, hält Freter allerdings für eine Unterstellung. "Das ist Unsinn."

Das Wahlrecht darf von niemandem stellvertretend ausgeübt werden. So will es das Gesetz. Erlaubt sind nur technische Hilfen - etwa bei Menschen mit starker Sehbehinderung oder bei Personen mit einer Lähmung in der Hand: das Vorlesen des Stimmzettels, Hilfe beim Ankreuzen oder Einwerfen des Wahlzettels in die Urne. "Es gibt kein Stellvertreter-Wahlrecht", sagt Frank. Auch der Hinweis: "Ich weiß doch, was mein Vater wählen würde", begründe keine Ausnahme. "Der Wähler muss seine Stimme willentlich selbst abgegeben." Wer Briefwahlunterlagen stellvertretend ausfüllt, begeht im Übrigen Wahl- und Urkundenfälschung.

Dass Wahlmanipulationen gängige Praxis sind, dafür gibt es keinerlei Beweise. Und doch ist es Wahlalltag, dass Angehörige "im Sinne des Kranken" einen Direktkandidaten und eine Partei auf dem Wahlzettel ankreuzen. Klaus Förter-Vondey ist überzeugt, dass es solchen Missbrauch gibt. Der Vorsitzende des Bundesverbandes der Berufsbetreuer in Hamburg vertritt auf richterliche Anordnung die Interessen von Demenzkranken. "Selbstverständlich gibt es Manipulationen. Man weiß doch, wie das passiert: Die Unterlagen werden nach Hause geschickt und dort von den Angehörigen ausgefüllt", sagt der Sozialpädagoge. Denkbar ist auch, dass Unterlagen im Papierkorb oder im Nachttischschrank einer Pflegestation landen.

Demenz ist kein Grund zum Ausschluss der Wahlberechtigung

Wie sein Berufskollege aus Hamburg glaubt auch der Kölner Berufsbetreuer Dirk Böttger, dass mit Wahlunterlagen "viel Schindluder getrieben" werde. "Was in den vier Wänden passiert, weiß keiner." Doch selbst die "Gefahr von Wahlmanipulationen", so Anwältin Schönhof, sei juristisch kein "ausreichender Grund", um "den Betroffenen vom Wahlrecht auszuschließen".

Wer soll außerdem entscheiden, wann ein Mensch verwirrt genug ist, um nicht mehr wählen zu dürfen? Angesichts der 1,2 bis 1,5 Millionen Erkrankten würden Einzelfallprüfungen schon allein an der Praktikabilität scheitern. Die Gerichte würden mit Anträgen von Alzheimerkranken und ihren Angehörigen schier überschwemmt. Scharen von Anwälten müssten sich mit Tausenden von Schicksalen auseinandersetzen.

Die Zahl derer, denen das Wahlrecht aufgrund der Demenz entzogen wird, sei äußerst gering, erläutert Förter-Vondey. Bei der großen Masse der Erkrankten wisse aber niemand, was mit ihrem Recht, wählen zu gehen, wirklich passiere. De facto könne das Wahlrecht aufgrund der Demenzerkrankung nicht ausgeübt werden oder werde von anderen ausgeübt. "Das Problem ist juristisch nicht anständig geregelt, sondern unter den Teppich gekehrt", kritisiert der Berufsbetreuer. "Was ist mit den Menschen, die ihre Stimme abgeben möchten, aber selber dazu nicht mehr geistig in der Lage sind. Sie werden eines Grundrechts beraubt."

Förter-Vondey schlägt deshalb eine gerichtliche Einzelfallprüfung und eine Art Stellvertreter-Wahlrecht vor. So könnte auf Anordnung des Gerichts der Betreuer zusammen mit Freunden und Angehörigen des Demenzkranken versuchen, eine Wahlentscheidung in seinem Sinne zu treffen.

Das Problem wird sich in den nächsten Jahren massiv verschärfen. Denn das Risiko, an Demenz zu erkranken, nimmt ab 70 Jahren stark zu. Jeder fünfte Wahlberechtigte ist bei dieser Bundestagswahl inzwischen älter als 70. Und bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Erkrankungen Prognosen zufolge verdoppeln. Für Hans-Jürgen Freter ist Alzheimer dennoch kein echtes Wahlhindernis. "Wenn jemand in der Lage ist, in eine Wahlkabine zu gehen, und dort mit dem Wahlzettel klarkommt, dann kann man davon ausgehen, dass er vernünftig wählen kann. So vernünftig oder unvernünftig, wie es andere, Gesunde, auch tun."