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Warten auf das Aufwachen: Die kleinste Entwicklung ist bei Wachkomapatienten ein Schritt nach vorn.

Ludwigsburg - Es ist eine Welt, in der Langsamkeit und Geduld vorherrschen. Selbst die winzigste Entwicklung ist bei WachkomaPatienten ein Schritt nach vorn. Und doch bleiben viele eingeschlossen im eigenen Körper, ohne je zu erwachen.

Den Gast, der das geräumige Wohnzimmer betritt, kann Max nicht erkennen. Sein Kopf wippt hin und her, seine Pupillen kreisen, doch zeigt er keine Reaktion auf das, was um ihn herum geschieht. Der bald 15-Jährige leidet am apallischen Syndrom. Seit dem 1. April 2006 liegt er im Wachkoma, gefesselt an Rollstuhl und Bett. Max kann sich nicht mehr eigenständig bewegen, muss gefüttert, gewickelt, gewaschen werden. Der rechte Arm und die Beine sind fixiert, damit der 1,68 große, 60 Kilogramm schwere Jugendliche sich und andere nicht verletzt.

"Es gibt keine Hoffnung auf Besserung", sagt seine Mutter Anke Schönbohm. Die 44-Jährige, die früher als Krankenschwester gearbeitet hat, kümmert sich seit Jahren rund um die Uhr um ihr hilfloses Kind. Wochentags kommt für zehn Stunden eine Krankenschwester. Im vergangenen Oktober hat die vierköpfige Familie in Sersheim bei Ludwigsburg eine neues, behindertengerechtes Haus bezogen. Hier sitzt Max den ganzen Tag am Esstisch, während seine Mutter kocht oder mit Gästen spricht. "Ich glaube nicht, dass er uns wahrnimmt", sagt sie und streichelt Max zärtlich über die Wange. "Er lebt - aber ohne Bewusstsein."

Fünf Monate alt, erkrankt Max an Masern. Pusteln und Fieber verschwinden bald wieder, doch die Viren schlummern in seinen Nervenzellen. Im November 2004 hat er plötzlich neurologische Aussetzer und epileptische Anfälle, die sich verschlimmern. Im Mai 2005 stellt man am Heidelberger Uni-Klinikum die Diagnose: SSPE - subakute sklerosierende Panenzephalitis. Eine Spätfolge der Maserninfektion, die zum Absterben von Teilen des Gehirns führt.

"Alle Ärzte haben uns gesagt: keine Hoffnung." Homöopathische Mittel sollen die Beschwerden ihres schwer kranken Sohnes lindern. Doch Heilung gibt es nicht. SSPE endet immer tödlich. "Wir leben damit, mal besser, mal schlechter", meint Anke Schönbohm. "An manchen Tagen sind wir verzweifelt, vor allem wenn wir die früheren Freunde von Max sehen, die gesund sind."

Julian (17) kommt ins Zimmer, begrüßt seinen Bruder. "Hallo." Max bewegt den Kopf zaghaft in Richtung seines Bruders, und fast scheint es, als würde er lächeln. "Max hat immer ganz stark auf seinen Bruder reagiert", sagt Anke Schönbohm und sieht ihren Jüngsten an - mit einem Blick, wie nur eine Mutter schauen kann. "Er darf nie alleine sein. Immer ist jemand da. Wir haben unser Leben radikal umgestellt."

Das Wachkoma ist ein schlafähnlicher Zustand mit offenen Augen. Es ist Folge schwerster Schädigungen des Gehirns - verursacht durch ein Schädel-Hirn-Trauma etwa nach einem Unfall, Sauerstoffmangel nach einem Kreislaufstillstand, einem Schlaganfall oder einer Gehirnhautentzündung. Man geht davon aus, dass die Funktion des Großhirns, in dem bewusste Vorgänge, kognitive Prozesse, planvolles Handeln und Bewegungen verarbeitet werden, ganz oder weitgehend erloschen ist. Menschen im Wachkoma wirken zwar wach, sie greifen, lächeln, weinen, kauen, schmatzen, aber mit bewusstem Handeln haben diese vegetativen Regungen nichts zu tun. Es sind Reflexe oder unkontrollierte Bewegungen.

Nach Aussage von Andreas Zieger, Neurochirurg am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg und Wachkoma-Experte, handelt es sich bei diesen Patienten weder um Hirntote noch Sterbende, "sondern um Schwerstkranke und Schwersthospitalisierte als lebendiger Teil unserer Gesellschaft".

Forscher fahnden in diesem Dasein zwischen Leben und Tod nach Spuren von Bewusstsein. So haben der Psychologe Boris Kotchoubey und der Hirnforscher Niels Birbaumer untersucht, was im Hirn komatöser Menschen vor sich geht. Bei jedem vierten, fünften Patienten konnten die Wissenschaftler vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Uni Tübingen schwache Reaktionen auf Reize messen. Kotchoubey: "Nach der medizinischen Definition haben Wachkoma-Patienten kein Bewusstsein. Dass heißt aber nicht, dass sie in dieser Phase nichts erleben." Solange sich die Ärzte nicht sicher sind, ob Bewusstseinsreste vorhanden seien, müsse das Leben im Wachkoma als lebenswert und schützenswert erachtet werden.

Auch der Mediziner Simon Eickhoff vom Forschungszentrum Jülich hat die Hirnfunktionen von wachkomatösen Menschen erforscht und Überraschendes festgestellt: Hirnscans bei einer Patientin zeigten Anzeichen für Gefühle, wenn Angehörige sie emotional ansprachen. "Sie hat persönliche Botschaften nicht nur akustisch wahrgenommen, sondern auch emotional bewertet."

Der belgische Neurowissenschaftler Steven Laureys von der Universität Lüttich geht davon aus, dass ein Drittel aller Wachkoma-Diagnosen vermutlich falsch sind. Andere komplexe Formen der Bewusstlosigkeit wie das Locked-in-Syndrom würden oft nicht diagnostiziert. Menschen in diesem Zustand sind bei vollem Bewusstsein, stecken aber in einem gelähmten Körper und können oft nur blinzeln. "Es ist insgesamt sehr schwer, eine korrekte Diagnose zu stellen. Es ist auch schwer, eine Prognose abzugeben, ob ein Patient sich wieder erholen wird oder nicht", so Laureys.

Die Betreuung der Patienten ist aufwendig und kostspielig - angefangen von der akutmedizinischen Versorgung über die Früh-Rehabilitation bis zur Langzeitpflege. Bundesweit stehen nach Angaben der Selbsthilfeorganisation Schädel-Hirn-Patienten in Not rund 4000 spezielle Pflegeplätze zur Verfügung.

Im Pflegezentrum des Robert-Breuning-Stifts in Besigheim werden 27 Patienten betreut. Nach Angaben des Leiters Peter Störl belaufen sich die Pflegekosten auf 4000 bis 4500 Euro pro Patient. Die Pflegeversicherung erstattet davon 1432 Euro (Pflegestufe 3). Der Rest muss selbst aufgebracht werden. Wenn der Patient dies nicht kann, springt die Sozialbehörde ein, die dann die Angehörigen zur Kasse bittet - etwa mit einer Hypothek auf Haus oder Wohnung.

Auch um die Kosten für die häusliche Pflege entbrennt immer wieder Streit, wie der Vorsitzende der Selbsthilfeorganisation, Armin Nentwig, erklärt. Ob und wie viel die Krankenkassen zahlten, sei regional unterschiedlich. Im Fall der Schönbohms übernimmt ihre Kasse die Kosten. Nentwigs Sohn Wolfgang fiel 1988 nach einem Unfall ins Wachkoma. Er starb später. 1990 gründete der frühere Landrat des bayerischen Amberg die Organisation, die bisher 50000 Familien betreut hat. Nentwig kritisiert, dass die Finanzierung der häuslichen Versorgung durch die Kassen "sehr benachteiligt" werde. "Es ist meist mit deutlich mehr Aufwand verbunden, eine Finanzierung für die häusliche Versorgung durchzusetzen."

"Das Leben mit einem Wachkoma-Patienten geht an die Existenz", betont Störl. "Beziehungen, Familien zerbrechen. Es kann im finanziellen Desaster enden." Für Patienten und Angehörige werde zu wenig getan. "Was machen Sie mit einem Mann, der am Bett seiner Frau steht, kleine Kinder an der Hand. Um wen kümmern Sie sich zuerst?"

Die Frage, ob jemand zu Hause oder im Heim betreut wird, hängt von vielen Faktoren ab: der Wohnsituation, der emotionalen und physischen Belastbarkeit der Angehörigen, ihrer finanziellen und sozialen Lage; nicht zuletzt der Bereitschaft, das ganze Leben umzukrempeln. "Die emotionale Bindung an die Familie ist ganz wichtig für den Heilungsprozess", sagt Nentwig. "Bei vielen gibt es ständig kleine Fortschritte."

Nach seinen Erfahrungen kehrt ein Drittel der Betroffenen ins normale Leben zurück; ein Drittel lebt mit unterschiedlich schweren Behinderungen zu Hause oder im Heim. Die Übrigen wachen nie wieder auf. "Ich könnte Max nie weggeben", sagt Anke Schönbohm. "Für Max ist es wichtig, dass Mama und Papa immer für ihn da sind."

Auch Christian Kahr (35) befindet sich im Wachkoma, nachdem er vor zwölf Jahren einen Herzstillstand erlitten hatte. Nach sechs Jahren im Pflegeheim holten ihn seine Eltern 2004 nach Hause. Vor kurzem sind sie von Erlenbach-Binswangen nach Feldbach in der Steiermark umgezogen. "Früher haben wir ihn besucht", sagt seine Stiefmutter Birgit Kahr (48). "Jetzt ist er immer da. Der Kontakt ist viel intensiver. Was die Familie leistet, kann kein Heim leisten."

Im Wohnzimmer der Schönbohms hat Max einen epileptischen Anfall - den vierten innerhalb weniger Stunden. Er atmet schwer, verkrampft den ganzen Körper. Anke Schönbohm umarmt ihren Sohn, hält seine Hand. "Max, hey, komm wieder zurück." Sie blickt ihn liebevoll an. "Es geht ihm zurzeit nicht gut. Er hat viele solcher Anfälle. Täglich müssen wir mitseinem...", sie stockt, "Weggang rechnen."