Jörg Feldhusen, Hochschullehrer in Aachen, nimmt kein Blatt vor den Mund: Die Schummeleien bei VW haben der Zunft keinen Gefallen getan Foto: Feldhusen

Seine Bücher sind Standardwerke bei Maschinenbauern. Bei seinen Studenten ist er einer der beliebtesten Professoren. Jörg Feldhusen, Hochschullehrer in Aachen, über den tiefen Fall des deutschen Ingenieurtums in Zeiten des VW-Abgasskandals.

- Herr Feldhusen, die Finanzkrise hat das Ansehen der deutschen Banker komplett ruiniert. Nach Skandalen um Klaus Zumwinkel, Uli Hoeneß oder Thomas Middelhoff steht die deutsche Managerkaste im Zwielicht. Und jetzt tricksen bei Volkswagen auch noch die Ingenieure. Fällt damit die letzte Bastion der Redlichkeit in der deutschen Wirtschaft?
So weit würde ich nicht gehen, die Gefahr ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Der Kern des deutschen Ingenieurtums ist intakt, aber es gibt schon Alarmsignale. Das Verrückte an dem aktuellen VW-Skandal um manipulierte Abgaswerte ist ja, dass der ehemalige VW-Chef Martin Winterkorn bis vor wenigen Tagen der Prototyp des deutschen Ingenieurs war – penibel, detailversessen, akkurat. Als VW-Chef hat er diese Werte in alle Welt getragen. Und jetzt bricht das alles in sich zusammen.
Sie vermuten, dass sich die Schockwellen weltweit ausbreiten?
Davon können Sie ausgehen. Ich war selbst lange Jahre im Ausland in der Industrie tätig. Deutsche Ingenieure galten damals überall als eine Art Halbgötter. Das ist natürlich überspitzt, im Kern aber zutreffend. Wenn sie als Ingenieur einer deutschen Uni eine Meinung hatten, hat ihnen selten jemand widersprochen. Der Ruf war ungeheuer gut. Wenn es jetzt also selbst die Halbgötter aus Deutschland nicht mehr hinkriegen und betrügen, ist der Knacks im Image nicht mehr zu verhindern. Ob es möglich sein wird, diesen Makel je wieder zu beseitigen, wage ich im Moment nicht vorherzusagen.
Wer als Halbgott verehrt wird, neigt dazu, abzuheben oder nachlässig zu werden. Sind die Ingenieure zu abgehoben?
Da kennen Sie wiederum die deutschen Ingenieure schlecht. Auch wenn die Kollegen einem Ingenieur nach einer Entwicklung auf die Schultern klopfen und sagen „toll, super gemacht, ganz fein“, wird er trotzdem nicht zufrieden sein. Wir genügen einfach selten unseren eigenen Ansprüchen. Da sind wir schlicht zu kritisch. „Alles super, haben wir toll gemacht, jetzt ist Feierabend“ – das gibt’s nicht.
Warum hat die Zunft im Falle VW dann dennoch versagt?
In vielen Unternehmen hat die kaufmännische Seite stark an Bedeutung gewonnen. In der Realität des Arbeitsalltags sieht es heute leider oft so aus, dass Ingenieure nicht mehr daran gemessen werden, ob sie eine tolle Lösung oder ein schönes Produkt entwickelt haben, sondern es zählt einzig die Frage, ob das Budget an Zeit und Geld eingehalten worden ist. Alles andere ist völlig wurscht.
War das schon immer so?
Nein. Da hat in den letzten Jahrzehnten ein grundsätzlicher Wandel stattgefunden. Kostengesichtspunkte in der Entwicklung haben seit Mitte der 1990er Jahre exponentiell zugenommen. Das ist ganz extrem. Ingenieure werden zusehends zu Dingen getrieben, von denen sie selbst sagen: „Na so ganz toll ist das nicht. Ich hätte das eigentlich lieber anders gemacht, aber ich erfülle dann notgedrungen doch meine Pflicht und setze die Vorgaben von oben um.“
Das klingt nach einer Ausrede. Immer sind die anderen schuld – Kontroller, Kostendrücker . . .
Die Frage ist wirklich heikel. Letztendlich muss man sagen, dass die Verantwortung für Produkte tatsächlich doch bei den Ingenieuren liegt. Immerhin sind sie die Fachleute, die als Einzige beurteilen können, welche direkten Folgen ihre Entwicklungen haben. Konkret heißt das: Wenn jemand kommt - wie jetzt im Fall von Volkswagen – und zu mir sagt: „Schreib doch mal eine Software für ein Steuergerät, das die Möglichkeit bietet, die Abgasmessung zu unterbrechen“, dann weiß jeder Entwickler ganz genau, welchem Einsatzzweck das dient. Insofern können sich die Ingenieure derzeit nicht wegducken. Wenn sie aufrichtig sind, müssten sie Einspruch erheben oder zumindest Bedenken geltend machen. Das Risiko für den Einzelnen ist überschaubar. Zumal ja die allermeisten unserer Zunft in der komfortablen Lage sind, sich ihren Arbeitgeber aussuchen zu können. Wenn jemand gekündigt wird, hat er übermorgen wieder einen Job irgendwo um die Ecke.
Deutsche Ingenieure konnten sich in der Vergangenheit eine Menge leisten, nur weil sie Ingenieure waren. Skurrile Umgangsformen, hölzerne Auftritte, mangelnde Fremdsprachenkenntnisse oder Extrem-Akzent – fast alles wurde ihnen verziehen, weil sie die besten Maschinen und Autos bauten. Ist es damit nun vorbei?
Es stimmt, dass wir ab und an etwas schofelig sind. Und es mag sein, dass einige Kollegen gewisse Marotten auch kultivieren. Die Freiheit, das zu tun, wird ihnen auch in Zukunft erhalten bleiben. Dass die Schummeleien bei VW der Zunft keinen Gefallen getan haben, ist andererseits auch klar.
Mangelt es den Ingenieuren an einer Berufsethik?
Es ist schon so, dass die Zunft grade vor dem Hintergrund der aktuellen Vorfälle noch mehr Eigenverantwortung zeigen muss. Zu vermuten, dem deutschen Ingenieur wäre die Ethik abhandengekommen, ist aber sicher falsch. Sehr viele Kollegen stellen sich diesbezüglich Fragen, wenn sie Entwicklungen vorantreiben. Jobs in der Rüstungsindustrie würde ein Großteil der Absolventen nicht übernehmen.
Hiesige Autobauer werben intensiv mit dem Begriff der deutschen Ingenieurskunst, der für Solidität und Qualität steht. Auch VW tut das. Ist tricksen da nicht besonders dreist?
Absolut. Das ist unfassbar. So etwas macht man schlicht und einfach nicht. Man konterkariert damit so ziemlich alles, für was mein Berufsstand bekannt ist.
Halten Sie es für möglich, dass noch andere Autobauer getrickst haben?
Leider ja. Die Technik, um die es geht, ist bekannt. Die Zulieferer sind überall dieselben, und zaubern kann keiner. Dass sich der Abgas-Skandal weitet, ist aus meiner Sicht sehr wahrscheinlich.
Martin Winterkorns Ära bei VW ist vorbei. Er beteuert aber, von den Tricksereien nichts gewusst zu haben. Ist das Ihrer Meinung nach glaubwürdig?
Bisher ist bekannt, dass über 11 Millionen Fahrzeuge betroffen sind. Wem kann so etwas denn verborgen bleiben? Dass wäre so, wie wenn sie in Stuttgart einen weißen Elefanten übersehen, der gerade die Straße überquert.
Müssen die Hochschulen ihre Jungingenieure nun nicht ganz anders ausbilden, um weitere Skandale zu vermeiden?
Nur ein Beispiel dazu: Als ich in den 1980er Jahren Maschinenbau studiert habe, musste man das Fach Technikfolgeabschätzung besuchen. Das ist mittlerweile kein Pflichtfach mehr. So etwas kann man durchaus kritisieren. Ich weiß aber, dass viele Kollegen das Thema Verantwortung in ihren Vorlesungen sehr wohl ansprechen. Für Ingenieure ist es immens wichtig, technische Neuerungen nicht isoliert zu betrachten, sondern in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu sehen. Die Hochschulen müssen sich aber schon die Frage stellen, ob sie in der Ausbildung genug tun, um diese Themen in die Köpfe der Studenten zu bekommen. Die Hochschullehrer haben diesbezüglich eine Verantwortung, vor der sie sich nicht drücken dürfen.
Woher stammt eigentlich die Auffassung, dass im deutschen Sprachraum ausgebildete Ingenieure besonders akkurat, penibel und pedantisch sind?
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Ingenieurskunst tatsächlich als eine Art Kunst, also als vom Zufall getrieben, angesehen. Deutsche Universitäten, etwa in Ilmenau oder Berlin, sind dann darangegangen, diese Kunst zu systematisieren und junge Menschen danach auszubilden. Man wollte Zufallsentwicklungen vermeiden und Produkteigenschaften exakt vorhersagen können. Im Hintergrund stand die entstehende Industriewelt, die standardisierte Produkte brauchte. Deutschland war damals in der Ausbildung vorne und hat diesen Anspruch bis heute behalten.
Seit einigen Jahren werden an deutschen Universitäten keine Diplomingenieure mehr ausgebildet, sondern Bachelor und Master. Hat dieser Prozess das Selbstverständnis und die Qualitäten der Absolventen beeinflusst?
Bei diesem Thema mache ich aus meinem Herzen keine Mördergrube. Die Abschaffung der Diplomabschlüsse war ein grober Fehler. Als der Beschluss fiel, hatte Coca-Cola hat einen Markenwert von 80 Milliarden Dollar. Die Marke Diplomingenieur wurde damals auf 60 Milliarden Dollar taxiert. Zumindest haben das schlaue Menschen errechnet. Durch die Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse haben wir dieses Geld einfach verbrannt. Etwas Dämlicheres kann man sich tatsächlich nicht vorstellen. Deutschland hat damit ein weltweites Alleinstellungsmerkmal grundlos geopfert. Dass der VW-Skandal schon eine Auswirkung dieses Systemwechsels ist, kann man aber wohl bei aller Kritik nicht behaupten.