Soll sich der Kreis die teure Integration in den Verkehrsverbund Stuttgart leisten? In dieser Serie kommen Betroffene zu Wort. Heute: die Unternehmer.
Göppingen - Die Industrie- und Handelskammer (IHK) Göppingen macht sich schon lange für den Beitritt des Kreises Göppingen in den Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) stark. Nicht ohne Grund fand vor kurzem ein Hearing des Landratsamtes mit Experten und Bürgern zu diesem Thema bei der IHK in der Jahnstraße statt. Warum sich im Kreis kaum ein Unternehmer finden lässt, der sich den Anschluss nicht wünscht, erklären zum Auftakt unserer Serie drei unterschiedliche Firmenvertreter aus dem Kreis Göppingen.
Wenn die Lehrlinge von Heike Kauderer vom Badhotel in Boll zum Blockunterricht an die Landesfachschule nach Bad Überkingen müssen, ist das für sie jedes Mal eine kleine Weltreise: Aus Boll oder der Umgebung geht es mit dem Bus nach Göppingen an den Bahnhof, dann mit dem Zug nach Geislingen und dann von dort per Bus nach Bad Überkingen. „Die sind jeden Tag pro Strecke anderthalb Stunden unterwegs“, sagt die Hotelchefin, die mit ihrem Mann noch zwei Häuser in Ostfildern (Kreis Esslingen) betreibt.
Hoffnung auf bessere Verbindungen in andere Kreise
Unter anderem aus diesem Grund wünscht sich Kauderer den VVS-Anschluss. Natürlich, sagt sie, sei auch das keine Garantie dafür, dass es mehr und bessere Verbindungen vom Voralbgebiet in den Rest des Kreises gebe. Aber aus ihrer Sicht wäre dann zumindest die Wahrscheinlichkeit größer, dass über neue Verbindungen nachgedacht werde. Schließlich engagiere sich der Verkehrsverbund auch bei der Entwicklung neuer Strecken.
Gerade bei den kreisübergreifenden Buslinien erhofft sich Kauderer mit dem VVS einen Durchbruch. „Bisher können wir kaum Mitarbeiter aus anderen Kreisen einstellen, die kein Auto haben“, sagt sie. Ein Lehrling aus Holzmaden etwa habe nur in dem Hotel anfangen können, weil er sich ein Moped gekauft habe.
Auch für ihre Gäste, von denen viele die Messe in Stuttgart besuchten, sei eine bessere Anbindung wünschenswert. „Ich bin sicher, dass viele das Auto gerne stehen lassen würden“, sagt Kauderer. Dass sich eine gute Anbindung auszahlt, weiß die Unternehmerin aus Erfahrung. Denn ihr Hotel in Ostfildern-Scharnhausen liegt direkt an der Linie 122, die zwischen Esslingen und dem Flughafen verkehrt. Die Buslinie sorge dafür, dass die Zimmer voll und die Preise höher seien. „In Boll müssen wir wesentlich mehr leisten, wenn wir den gleichen Preis erzielen wollen.“
Die WMF will Mitarbeiter für den ÖPNV begeistern
Auch die Personalchefin der Schuler AG, Martina Lambeck, und Clemens Wöhrle von der Geschäftsleitung der WMF in Geislingen, versprechen sich von einer VVS-Anbindung bessere Bedingungen für ihre Mitarbeiter und damit für ihre Unternehmen. Die WMF sei mit rund 100 Lehrlingen einer der größten Ausbilder im Kreis, sagt Wöhrle. Viele von ihnen kämen schon heute, dank der Teilintegration in den VVS, aus dem Raum Stuttgart. Weil der Öffentliche Nahverkehr dort gut funktioniere, machten viele der jungen Leute keinen Führerschein mehr – was dann in Geislingen mit den weniger guten Verbindungen zu Problemen führe. Und, fügt Wöhrle an, „auch viele Leiharbeiter haben heute kein Auto.“ Wolle man gute Kräfte bekommen, sei die Anbindung essenziell.
Daneben hat Wöhrle noch ein weiteres Ziel im Hinterkopf, bei dem der VVS aus seiner Sicht helfen könnte: „Heutzutage wird es immer wichtiger, nachhaltig zu produzieren. Das ist Teil der Wertigkeit einer Marke.“ Deshalb habe die WMF ein großes Interesse daran, möglichst viele Mitarbeiter von der Straße auf die Schiene zu bringen. Denn das, sagt Wöhrle, trage am Ende auch zur CO2-Reduzierung bei der Herstellung der WMF-Produkte bei.
Schuler will Fachkräfte auf Dauer in den Kreis locken
Martina Lambeck von Schuler geht noch einen Schritt weiter. Ihr Unternehmen, so erklärt sie, wünsche sich nicht nur, dass die Mitarbeiter leicht zur Arbeit kämen – „das klappt mit der Bahn schon ganz gut, wir sind ja vom Göppinger Bahnhof aus gut zu erreichen.“ Für Schuler sei es wichtig, die Mitarbeiter dauerhaft an das Unternehmen zu binden. Mit anderen Worten: Sie sollen nicht pendeln, sondern im besten Fall in den Landkreis Göppingen ziehen.
„Wir investieren schließlich viel Zeit und Geld in sie“, sagt Martina Lambeck. Doch heutzutage fragten Fachkräfte nicht nur, wie es um die Arbeitsbedingungen in einem Unternehmen bestellt sei, wie die Bezahlung aussehe und wie das Essen in der Kantine schmecke. „Die Leute wollen auch wissen, ob der Nahverkehr funktioniert“, berichtet Lambeck. „Denn viele haben Familien und wollen auch, dass ihr Partner überall gut hinkommt, und die Kinder leicht in die weiterführenden Schulen kommen.“
Nur wenn das Gesamtpaket stimme, seien fähige Leute bereit, sich dauerhaft in Göppingen und der Umgebung niederzulassen. Aus Lambecks Sicht ist das ein Aspekt, den auch die Kreispolitik bei ihren Überlegungen nicht vernachlässigen sollte. Tatsächlich gehen auch Nahverkehrsexperten davon aus, dass eine VVS-Mitgliedschaft den Kommunen im Kreis ein Bevölkerungswachstum und damit auch mehr Einnahmen bringen würde. „Wir als Unternehmen können es uns nicht leisten, kurzfristig zu denken“, sagt Lambeck. „Das sollte der Landkreis auch nicht tun.“
Verkehrsverbund wurde vor 40 Jahren gegründet
Verbund:
Der Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) ist – vom Kreis Göppingen abgesehen – für den öffentlichen Nahverkehr in der Region Stuttgart sowie einem kleinen Teil des Ostalbkreises zuständig. Er umfasst ein Gebiet von 3000 Quadratkilometern Fläche mit 2,4 Millionen Einwohnern. Verbundpartner sind die Kreise Esslingen, Rems-Murr, Böblingen und Ludwigsburg sowie die Stadt Stuttgart und die Verkehrsunternehmen. Gemeinsam betreiben sie das Nahverkehrssystem mit Bussen, Stadtbahnen und S-Bahnen, darüber hinaus bieten sie ergänzende Angebote wie Carsharing und Leihfahrräder an. Der VVS betreibt aber nicht nur bestehende Strecken, er plant und baut auch neue, sei es für die S-Bahn, für Linienbusse oder aktuell besonders für Expressbusse. Das gesamte Netz kann mit einem Fahrschein genutzt werden.
Gründung
: Der VVS wurde vor 40 Jahren, im Jahr 1978, gegründet, als die S-Bahn in Betrieb ging. Der Kreis Göppingen wollte sich damals aus finanziellen Gründen nicht an dem Verbund beteiligen. Als ein Anschluss viele Jahre später erneut zur Debatte stand, entschieden sich die Kreisräte abermals gegen den Beitritt. Heute bedauern viele die Kurzsichtigkeit von damals, weil sich inzwischen gezeigt hat, dass die S-Bahn für die Kommunen, in denen sie verkehrt, ein erheblicher Wohlstandsfaktor geworden ist. Viele Bürger orientieren sich heute am S-Bahn-Plan, wenn sie darüber nachdenken, wo sie wohnen möchten. Bauland und Wohnungen in S-Bahn-Nähe sind deutlich wertvoller.
Angebot:
Jetzt hat der Kreis erneut die Chance, dem Verbund beizutreten. 2014 erfolgte bereits eine Teilintegration, seither kann man an den Bahnhöfen VVS-Tickets lösen, die für Bus und Bahn im ganzen Verbundgebiet gelten. In den Bussen ist das allerdings bisher nicht möglich und auch an den Planungen des VVS für neue Strecken kann sich der Landkreis Göppingen bisher nicht beteiligen. Eine Vollintegration würde das ändern. Billig wäre das aber nicht. Obwohl die anderen Kreise finanzielle Zugeständnisse gemacht haben, rechnet man im Landratsamt mit jährlichen Mehrkosten für den Nahverkehr zwischen drei und fünf Millionen Euro.