Norbert Lammert, der von der Vorsitzenden der Kulturgemeinschaft, Christa Linsenmaier-Wolf (links), nach Fellbach gelockt wurde, füllt den Hölderlinsaal. Foto: Michael Käfer

Als Kämpfer für demokratische Werte und überzeugter Europäer präsentiert sich der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert vor rund 1100 Zuhörern in der Schwabenlandhalle Fellbach.

Fellbach - Den Hölderlinsaal der Schwabenlandhalle mit den Zuhörern eines Vortrags zu füllen, ist kein einfaches Unterfangen. Zuletzt gelang das dem Kriminalbiologen Mark Benecke, der schockierende Bilder zu bieten hatte. Gänzlich auf die Kraft des Wortes setzte am Mittwochabend dagegen Norbert Lammert.

1100 Zuhörer wollten seinen Vortag anlässlich des 70. Jahrestags der Verkündigung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 nicht entgehen lassen

Einem Dreierbündnis aus Kulturgemeinschaft Fellbach mit Christa Linsenmaier-Wolf an der Spitze sowie der Stadt Fellbach und der durch Reinhold Weber vertretenden Landeszentrale für politische Bildung ist es gelungen, den ehemaligen Bundestagspräsidenten in die Fellbacher Schwabenlandhalle zu locken. 1100 Zuhörer wollten sich an einem Abend, den man bei gutem Wetter auch im Freien hätte verbringen können, seinen Vortag anlässlich des 70. Jahrestags der Verkündigung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 nicht entgehen lassen.

„Sie genießen Anerkennung und Wertschätzung über alle Parteigrenzen hinweg“, sagte Fellbachs Oberbürgermeisterin Gabriele Zull in ihrer Begrüßung. Diese Einschätzung spiegelte sich im Hölderlinsaal wider, in dem Vertreter aller Parteien des Fellbacher Gemeinderats neben Landtagsabgeordneten unterschiedlicher politischer Couleur saßen.

Anders als die Weimarer Verfassung, stellt das Grundgesetz die Grundrechte auch formal in den Vordergrund

„Die vergangenen 70 Jahre waren die besten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, sagte Norbert Lammert, nach dessen Überzeugung dazu auch die geniale Konstruktion des Grundgesetzes beigetragen hat. Nicht ohne Grund sei das Grundgesetz inzwischen älter als die Verfassung von 1871 und die Weimarer Verfassung zusammen. „Wieso ist dieses Grundgesetz, diese Verfassung, die noch nicht einmal so heißt, eigentlich so erstaunlich stabil?“, fragte der 70-Jährige und lieferte die Antwort gleich mit. Die Väter des Grundgesetzes hätten nicht schlicht das französische oder amerikanische Demokratiemodell übernommen, sondern einen eigenen Weg aufgrund eigener Geschichte und eigener Erfahrungen der Deutschen eingeschlagen. Diese „Treffgenauigkeit“ ist für Norbert Lammert ein wesentlicher Erfolgsfaktor.

Außerdem galten die Grundrechte nach Maßgabe der Gesetze und nicht als Maßstab für die Gesetze

Anders als die Weimarer Verfassung, stellt das Grundgesetz die Grundrechte auch formal in den Vordergrund. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet dessen erster Satz. „Ein atemberaubender Satz, der spitz formuliert falsch ist“, sagte Norbert Lammert in Anlehnung an Gabriele Zull, die einleitend auf die vielfältigen Möglichkeiten von Angriffen auf die Würde des Menschen hingewiesen hatte. In der Weimarer Verfassung stehen die Grundrechte weit hinten. „Etwas lapidar formuliert waren sie die Zugabe für die, die bis dahin gelesen haben“, sagte Norbert Lammert. Außerdem galten die Grundrechte nach Maßgabe der Gesetze und nicht als Maßstab für die Gesetze.

Zugleich wandte er sich gegen vermehrte Volksentscheidungen

Im europapolitischen Teil seiner Rede hob der gebürtige Bochumer die Bedeutungslosigkeit einzelner europäischer Staaten im Weltmaßstab hervor. 2050 werde es gerade noch einen europäischen Staat mit mehr als einem Prozent Anteil an der Weltbevölkerung geben – Deutschland: „Wenn wir eine Rolle spielen wollen, spielen wir sie entweder gemeinsam oder wir spielen keine Rolle.“ Abschließend und fast wortgleich wie zuvor Gabriele Zull betonte Lammert die Verantwortung jedes Einzelnen für den Erhalt der Demokratie. „Die Demokratie ist eine wunderbare Staatsform, aber sie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürger“, sagte er unter großem Beifall.

In der von Christa Linsenmaier-Wolf unter geschickter Vermeidung etwaiger Co-Referate moderierten Fragerunde plädierte Norbert Lammert für höhere Verteidigungsausgaben der Europäer. Zugleich wandte er sich gegen vermehrte Volksentscheidungen. Als Fragestellerin nicht zum Zuge kam Ursula Roth, die in Lammerts Auflistung historischer Daten mit der Zahl neun am Schluss den Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 vermisste. Sie erst habe den Aufstieg Hitlers ermöglicht: „Menschen werden für Demagogen anfällig, wenn ihre Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden“, sagte sie hinterher und zog Parallelen zur gegenwärtigen Situation armer Menschen.