Gewaltbereite Hooligans und Neonazis marschieren an zwei Tagen durch Chemnitz. Es wird Jagd auf Ausländer gemacht und Angst verbreitet. Erst am Dienstag findet Ministerpräsident Michael Kretschmer klare Worte zu den Ereignissen – sie kommen nur viel zu spät.

Dresden - Jetzt ist er da, stellt sich, findet Worte der Klarheit. Es geht um Sicherheit „und die Verteidigung der Demokratie“, sagt er. „Wir setzen das Gewaltmonopol des Staates durch.“ Die in Chemnitz zu beobachtende „Instrumentalisierung einer Gewalttat durch Rechtsextremisten“ nennt er „abscheulich“. Er kündigt „entschiedene Verfolgung von Straftaten“ an. Der sächsische Staat werde sich das Gewaltmonopol nicht aus der Hand nehmen lassen. So kämpferisch hat man Michael Kretschmer, Sachsens 34 Jahre alten Ministerpräsidenten, in Sachen Verteidigung des Rechtsstaats selten gehört.

Zweimal in gerade mal anderthalb Wochen musste die Kanzlerin mit klaren Ansagen das dröhnende Schweigen eines wortlosen Regierungschefs übertönen. Als am vorletzten Donnerstag ein ZDF-Kamerateam am Rande einer Pegida-Demo von der Polizei für eine Dreiviertelstunde festgesetzt wurde, weil sich ein pöbelnder Störer zu Unrecht gefilmt sah, stellte sich Kretschmer in einem Reflex ohne nähere Kenntnis des Sachverhalts hinter die Polizei und sprach den Journalisten beiläufig die Seriosität ab. Kein Wort über die unrechtmäßige Behinderung der Berichterstattung. Aus dem fernen Baku verteidigte die Kanzlerin die Pressefreiheit in Sachsen. Als sich mit einigen Tagen Verspätung der Dresdner Polizeipräsident beim ZDF-Team entschuldigte, sah Kretschmer alt aus – und schwieg weiter.

Zweimal musste Merkel für Kretschmer einspringen

Auch als am Sonntag ein rechtsradikaler Mob durch Chemnitz zog, um Jagd auf Menschen zu machen, die ausländisch aussahen, fiel Kretschmer so wenig ein, dass Merkel den Regierungssprecher Steffen Seibert instruierte, wenigstens in Berlin das zu sagen, was in Dresden unterblieb, nämlich dass man „solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder den Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten“, nicht hinnehme. Kretschmer stolperte Stunden später mit der lahmen Bemerkung hinterher, man lasse nicht zu, „dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird“.

Hoyerswerda, Heidenau, Claußnitz, Freital, die Pegida-Aufzüge in Dresden – Sachsens Bild ist längst mitgeprägt durch eine lange Kette fremdenfeindlicher und rechtsradikaler Umtriebe. Und parallel dazu immer wieder die Beschwörungen wechselnder Ministerpräsidenten, dass es doch nur eine Minderheit sei, dass Sachsen weltoffen sei und der Freistaat kein Naziproblem habe. Heerscharen von Politologen und Soziologen arbeiten sich an der Frage ab: Wieso Sachsen?

Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Aber ein Element kommt immer wieder vor: der Start nach der Wiedervereinigung unter Kurt Biedenkopf. Am 14. Oktober 1990 gewann er für die CDU die Landtagswahl mit 53,8 Prozent. Sachsen wurde unter seiner Regierung zum ökonomischen Musterland. Weltfirmen kamen, die Universitäten gehörten rasch zu den besten der Republik, die sächsischen Schüler schlugen sich bei den Pisa-Tests prächtig. Biedenkopf besetzte die Spitzen der Verwaltungen mit Westimporten, umgab sich mit Glanz und duldete keinen Widerspruch. Selbstzweifel kannte er nicht, Sachsens Image leuchtete über allem.

Jährliche Naziaufmärsche gibt es schon seit Jahrzehnten

Jährliche Naziaufmärsche in Dresden gab es damals schon. Für Biedenkopf „Rechtswidrigkeiten von jungen Leuten, die entwurzelt sind“. Die satten CDU-Mehrheiten verhinderten einen lebhaften parlamentarischen Alltag, die Dauerherrschaft der CDU – bis heute hat Sachsen nie einen echten Regierungswechsel erlebt – wirkte sich lähmend aus. Eine kritische Zivilgesellschaft konnte so kaum entstehen. Wie früher bei Hofe etablierte sich eine Art informelles Eingabewesen, bei der Biedenkopfs Frau als Landesmutter fungierte, die Bitten und Anliegen an den Gatten weiterlancierte. Biedenkopf baute seine Mehrheit weiter aus und regierte bis 2002. Sachsen trug Züge einer konstitutionellen Monarchie. Die glanzloseren Nachfolger Georg Milbradt und Stanislaus Tillich übernahmen nahtlos die Ansicht, dass Kritik an der Regierung schädlich sei. Kritiker gerieten schnell in die Nähe der Nestbeschmutzung.

Das hat Folgen. 2004 zog die NPD mit 9,2 Prozent in den Landtag ein. Erst 2014 scheiterte sie knapp mit 4,9 Prozent. Heute ist die AfD dort besonders stark, wo die NPD stabile Strukturen hatte. Bei der Bundestagswahl 2017 erreichte die AfD in der Sächsischen Schweiz 35,5 Prozent – bundesweit ihr bestes Ergebnis. In Sachsen wurde sie die stärkste Partei. Michael Kretschmer verlor 2017 in Görlitz sein Bundestagsmandat an den AfD-Bewerber. Seit Oktober ist er als Nachfolger Tillichs Ministerpräsident. Bislang steht er durchaus in der Kontinuität seiner Vorgänger.