Die Autofähre „MS Estonia“ der Reederei Estline (Archivbild). Die „Estonia“ war 1994 mit 989 Menschen an Bord auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Südküste gesunken. Foto: epa/dpa

Vor 30 Jahren sank die Ostsee-Fähre „MS Estonia“ auf ihrem Weg von Tallinn nach Stockholm. Das Ausmaß der Katastrophe macht noch immer sprachlos. Hinterbliebenen fehlt es bis heute an Antworten.

Am 28. September 1994 wurde die Ostsee zum stillen Zeugen der größten Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegszeit geworden. Mehr als 850 Menschen waren damals beim Untergang der Passagierfähre „MS Estonia“ vor der Südküste von Finnland ums Leben gekommen.

30 Jahre ist dieses Unglück an diesem Samstag (28. September) her, und noch immer sind nicht alle zentralen Fragen zu der Tragödie beantwortet, darunter die für Überlebende und Hinterbliebene so wichtige Schuldfrage.

Särge mit Verstorbenen des „Estonia“-Unglücks bei der zentralen Trauerfeier in Stockholm am 20. Oktober 1994. Foto: Imago/TT

Wer trägt die Verantwortung?

„Vem bär ansvaret?“ - Wer trägt die Verantwortung? - fragt die Opfer- und Angehörigenstiftung SEA anlässlich des 30. Jahrestags der Katastrophe. Sie fordert von der schwedischen Politik, dass die Frage der Verantwortung ein für alle Mal durch eine parlamentarische Untersuchung geklärt wird.

Dass die Toten, die noch heute im und am Schiffswrack liegen, identifiziert und wenn möglich in würdiger Form bestattet werden können. Und auch, dass die „Estonia“ endlich vom Grund der Ostsee geborgen wird, um eine vollständige Untersuchung zur Feststellung der Unglücksursache zu ermöglichen.

Diese Forderungen werden am Samstag (28. September) auch bei einem zentralen Gedenken am „Estonia“-Monument in Stockholm nachhallen. Neben Überlebenden und Angehörigen werden dort auch König Carl XVI. Gustaf, Königin Silvia und Ministerpräsident Ulf Kristersson erwartet.

Der vordere Teil der „Estonia“wird am 19. November 1994 aus dem Meer gehoben. Die Passagierfähre war 1994 mit 989 Menschen an Bord auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Südküste gesunken. Foto: AP/Jaakko Avikainen/dpa

Endlich mit dem Unglück abschließen

Gleichzeitig wünschen sich viele Betroffene, endlich mit dem Unglück und den damit verbundenen Spekulationen abschließen zu können. Im Laufe der 30 Jahre habe es eine verrückte Theorie zur Unglücksursache nach der anderen gegeben, sagt der Hinterbliebene Jonathan Lindström in einer aktuellen „Estonia“-Dokumentation im schwedischen Rundfunksender SVT.

„Ich hoffe, dass wir die Estonia dort lassen, wo sie jetzt ist. Und weitergehen. Und solche Verschwörungstheorien nicht weiter fördern“, teilt der Schwede mit, der bei dem Untergang seine Eltern verlor.

Ein Videostandbild zeigt den Schriftzug der 1994 gesunkenen Ostsee- Fähre „Estonia“, die vor der Südküste Finnlands liegt. Foto: STT-Lehtikuva-Pool/dpa

Verheerende Septembernacht 1994

Die „Estonia“-Katastrophe hat sich in das schwedische Bewusstsein so stark eingebrannt wie der ebenfalls nie ganz aufgeklärte Mord an dem früheren Ministerpräsidenten Olof Palme acht Jahre zuvor.

  • Die Passagierfähre war am Vorabend des 28. Septembers 1994 mit 989 Menschen an Bord in der estnischen Hauptstadt Tallinn in See gestochen, um am nächsten Morgen die schwedische Hauptstadt Stockholm zu erreichen.
  • In der Nacht kam es jedoch zur großen Tragödie: Die Fähre lief bei stürmischer See plötzlich voll Wasser, bekam Schlagseite und sank innerhalb von nur knapp einer Stunde. Nur 137 Menschen an Bord überlebten die Katastrophe. 852 starben, darunter rund 500 Schweden und fünf Deutsche.
  • Nicht einmal 100 Leichen konnten geborgen werden. Für die mehr als 750 weiteren Toten wurde die Ostsee zur letzten Ruhestätte.
Das Estonia-Denkmal auf der Stockholmer Insel Djurgården erinnert an die vielen Todesopfer des Untergangs der Ostsee-Fähre „Estonia“. Der Untergang gilt als die schwerste Schiffskatastrophe in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Foto: dpa/Steffen Trumpf

Verursachte abgerissenes Bugvisier den Untergang?

In einem vielfach kritisierten Untersuchungsbericht kamen die Havariekommissionen aus Estland, Finnland und Schweden 1997 zu dem Schluss, dass das abgerissene Bugvisier der Fähre den Untergang verursacht hat.

Unstrittig ist, dass diese Bugklappe auf offener See abriss. Sie war das einzige Schiffsteil, das direkt nach dem Untergang geborgen wurde. Unmengen von Wasser konnten daraufhin ungehindert ins Schiffsinnere strömen.

Archivbild eines Schwesterschiffs der „Estonia“ mit der geöffneten Bug-Luke. Foto: Imago/Lise Åserud

Diese Begründung zum Unglückshergang wurde jedoch immer wieder in Zweifel gezogen. Wie beim Palme-Mord entstanden zahlreiche Theorien darüber, wie es bloß zu all dem kommen konnte. Die Spekulationen reichten von einer Explosion an Bord über den Transport von Militärausrüstung bis hin zu einer Kollision mit einem U-Boot.

Unklar ist bis heute, wie die „Estonia“ so schnell sinken konnte. Ein weiterer Grund für all die Spekulationen war die Tatsache, dass über dem Wrack von politischer Seite ein Grabfrieden verhängt wurde und Tauchgänge zum Schiff somit verboten wurden. Das sah für viele so aus, als wollte da jemand etwas verheimlichen. Sollte die Wahrheit für immer auf dem Meeresgrund der Ostsee verborgen bleiben?

Die Bugklappe der gesunkenen Passagierfähre „M/S Estonia“ wird vor der Insel Uto in der Ostsee vom Meeresgrund gehoben. Foto: Lehtikuva/AP/Jaakko Aiikainen/dpa

Neue Funde, neue Untersuchungen

Neuen Nährboden erhielten die Zweifel an der offiziellen Version durch die 2020 veröffentlichte Dokumentation „Estonia - Fyndet som ändrar allt“ („Estonia - der Fund, der alles ändert“), für die ein Filmteam um den schwedischen Journalisten Henrik Evertsson einen Tauchroboter zum Wrack heruntergelassen hatte. Dabei wurde ein bis dahin unbekanntes, mehrere Meter großes Loch auf der Steuerbordseite des Schiffsrumpfes entdeckt.

Die Behörden leiteten daraufhin neue Untersuchungen auf See in die Wege. 2023 wurde dazu ein erster Zwischenbericht mit vorläufigen Einschätzungen veröffentlicht, die die Schlusssätze von 1997 im Grunde nicht infrage stellten. Es seien weder Anzeichen für eine Explosion an Bord noch für eine Kollision mit einem Schiff oder anderen schwimmenden Objekten entdeckt worden, schrieben die Ermittler.

Und das große Loch, das die Evertsson-Doku entdeckte? Stammt den Untersuchungen zufolge vom Aufprall der Fähre auf dem harten Gestein des Meeresgrundes.

Forscher an Bord des Schiffes „R/V Electra af Askö“ untersuchen im Juli 2021 das erste Bildmaterial nach den Messungen auf dem Meeresboden beim Wrack der „M/S Estonia“ auf der Ostsee. Foto: TT News Agency/AP/Stefan Jerrevång/dpa

War die Autofähre seetüchtig?

Eine zentrale Erkenntnis der vorläufigen Bewertungen hat Angehörige und Hinterbliebene jedoch aufhorchen lassen. „Die Havariekommissionen aus Schweden und Estland haben festgestellt, dass die „M/S Estonia“ beim Auslaufen in Tallinn am 27. September 1994 nicht seetüchtig war“, berichtet der SEA-Vorsitzende Lennart Berglund, dessen Schwiegereltern bei der Katastrophe ums Leben gekommen sind. Er fragt sich nun: „Wer trägt die Verantwortung dafür, dass sie trotzdem die Route Stockholm-Tallinn bedienen konnte?“

Eine der Rettungsinseln der „Estonia“ wird am 28. September 1994 geborgen. Foto: Imago/TT

Für die Opfer- und Angehörigenstiftung ist die behördliche Erkenntnis zur Seetüchtigkeit der Fähre grundlegend für die Aufarbeitung der Tragödie. „Das verändert alle Voraussetzungen für den Umgang mit der „Estonia“-Katastrophe, sowohl politisch als auch rechtlich“, heißt es von der Stiftung.

Der schwedische Staat müsse nun endlich Klarheit schaffen, was die Katastrophe verursacht habe und wer dafür verantwortlich sei. „Nur die Wahrheit darüber, wie und warum das Schiff unterging und wie die Verantwortung dafür verteilt wird, kann die „Estonia“-Frage zu einem definitiven und würdigen Schluss bringen.“

Info: Die größten Schiffsunglücke der Moderne

9000 Tote
Das deutsche Passagierschiff Wilhelm Gustloff wird am 30. Januar 1945 von dem sowjetischen U-Boot S-13 in der Ostsee versenkt. Eine Stunde nach dem Torpedobeschuss sinkt das Schiff 23 Seemeilen vor der Küste Pommerns. Rund 9000 Menschen an Bord, davon 8800 Flüchtlinge, ertrinken. Der Untergang der Wilhelm Gustloff gilt als die größte Schiffskatastrophe der Seefahrtsgeschichte (bezogen auf ein einzelnes Schiff).

 

„Wilhelm Gustloff“ Foto: dpa

8500 Tote
Das japanische Handelsschiff Tango Maru wird am 25. Juni 1944 von dem amerikanischen U-Boot Rasher versenkt. Rund 3500 Menschen – vor allem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter – kommen ums Leben. Nur wenige Stunden später versenkt dasselbe U-Boot den Truppentransporter Ryusei Maru, auf dem sich 6600 Soldaten befinden. Mindestens 5000 von ihnen ertrinken.

7000 Tote
Die Goya, ein Frachtschiff der Reederei „A/S J. Ludwig Mowinckels Rederi“, wird Anfang 1940 in Dienst gestellt. Nach der deutschen Besetzung Norwegens im April 1940 wird die Goya von der Kriegsmarine beschlagnahmt. Das mit Tausenden Flüchtlingen beladene Schiff wird am 16. April 1945 durch das sowjetische U-Boot L-3 versenkt. Dabei kommen über 7000 Menschen ums Leben.

4500 Tote
Das in der Neustädter Bucht (einer Unterbucht der Lübecker Bucht) ankernde deutsche Passagierschiff Cap Arcona wird am 3. Mai 1945, fünf Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs, durch britische Jagdbomber in Brand geschossen und versenkt. Von 4600 an Bord befindlichen Häftlingen aus dem KZ Neuengamme kommen bis auf 100 alle ums Leben.

 

„Cap Arcona“ Foto: Imago/Teutopress

4386 Tote
Die philippinische Fähre Doña Paz kollidiert am 20. Dezember 1987 in der Nähe der Insel Mindoro mit dem Tanker Vector. Die Schiffe explodieren und brennen aus. Nur 24 Menschen der Doña Paz und zwei Besatzungsmitglieder der Vector überleben die Havarie. Die amtliche Untersuchung zählt später 4386 Tote: 4317 Passagiere, 58 Besatzungsmitglieder der Doña Paz und elf Besatzungsmitglieder der Vector. Es handelt sich um das schwerste Schiffsunglück in Friedenszeiten.

4000 Tote
Das deutsche Passagierschiff Steuben hat 2800 Verwundete, 800 Flüchtlinge und 500 Soldaten sowie Sanitäter an Bord, als es in den Nachtstunden des 10. Februar 1945 vor Stolpmünde (Pommern) von dem sowjetischen U-Boot S-13 torpediert und versenkt wird. Mindestens 4000 Menschen kommen ums Leben.

 

„Steuben“ Foto: Imago/Arkivi

3520 Tote
Am 4. Dezember 1948 verlässt das chinesische Passagierschiff Kiang Ya den Hafen von Shanghai. Aufgrund des Bürgerkriegs ist das Schiff mit Flüchtenden vollkommen überladen. In der Mündung des Flusses Huangpu Jiang ereignet sich eine Explosion – vermutlich durch eine Seemine aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Kiang Ya sinkt innerhalb kurzer Zeit und reißt 3520 Menschen mit sich in den Tod.

2967 Tote
Die tansanische Fähre Spice Islander I sinkt in den frühen Morgenstunden des 10. September 2011 zwischen den Inseln Unguja und Pemba (Sansibar-Archipel) infolge von Überladung. Obwohl nur für 700 Personen ausgelegt, sind über 3500 Menschen an Bord. Nur 619 von ihnen können gerettet werden.

1863 Tote
Am 26. September 2002 gerät die senegalesische Fähre Le Joola vor der Küste Gambias in einen Sturm. Nach fünf Minuten kentert das Schiff. 1863 Menschen kommen ums Leben, darunter viele Studenten, die unterwegs in die sengalesische Hauptstadt Dakar waren.

1514 Tote
Am 15. April gegen 2.20 Uhr sank die Titanic, nachdem sie am 14. April um 23.40 Uhr im Nordatlantik – etwa 300 Seemeilen südöstlich von Neufundland – einen Eisberg gerammt hatte. 1514 der über 2200 an Bord befindlichen Menschen kamen dabei ums Leben.

 

„Titanic“ Foto: dpa

1500 Tote
Am 10. April 1912 bricht die Titanic, das größte Schiff der Welt, zu ihrer Jungfernfahrt auf. Der Weg führt von Southampton nach New York. 2223 Menschen sind an Bord des als unsinkbar geltenden Luxusliners. Am 14. April gegen 23.40 Uhr rammt die Titanic bei voller Fahrt einen Eisberg und sinkt nach nur zwei Stunden und 40 Minuten. Da es viel zu wenig Rettungsboote gibt, ertrinken und erfrieren 1514 der über 2200 an Bord befindlichen Menschen.

Bis zu 1400 Tote
Das Die ägyptische Fähre Salem Express läuft am 14. Dezember 1991 auf der Fahrt von Dschidda nach Safaga kurz vor dem Zielhafen auf ein Korallenriff auf und sinkt innerhalb von zehn Minuten. Nach offiziellen Angaben sterben von 654 Personen an Bord 448. Die tatsächliche Opferzahl könnte aber bei bis zu 1400 Toten liegen.

 

Das Wrack der „Salem Express“ Foto: Imago/Fabian Matzerath

1153 Tote
Das japanische Fährschiff Toya Maru sinkt am 26. September 1954 in einem Taifun vor der japanischen Insel Hokkaido. Offiziell sterben 1153 Menschen. Die Eisenbahnfähre gehörte der Japanischen Staatsbahn, welche die Insel Hokkaidō über die Tsugaru-Straße mit der Insel Honshū verband.

1026 Tote
Am 2. Februar 2006 sinkt die ägyptische Autofähre Al-Salam Boccaccio 98 auf dem Weg vom saudi-arabischen Dhiba ins ägyptische Safaga im Roten Meer nach einem Feuer an Bord. Von 1414 Passagieren und Mannschaftsmitgliedern können nur 388 gerettet werden.

Mindestens 1000 Tote
Am 17. Februar 1993 sinkt die haitianische Fähre Neptune auf dem Weg in die Hauptstadt Port-au-Prince in der Nähe der Île de la Gonâve. Angeblich wird das völlig überladene Schiff durch eine Panik unter den Passagieren zum Kentern gebracht. Da es weder Rettungsboote noch Schwimmwesten an Bord gibt, ertrinken mindestens 1000 Menschen. Nur 300 Überlebende können gerettet werden.

852 Tote
Es ist der 28. September 1994. Fünf Stunden nach Abfahrt, gegen 1 Uhr morgens, bricht der Verschluss der Bugklappe der Ostseefähre Estonia. Wasser dringt ein. Die Fähre bekommt starke Schlagseite und sinkt innerhalb kürzester Zeit vor der finnischen Insel Utö. 852 Menschen verlieren ihr Leben. Nur 137 Menschen überleben die Katastrophe.

 

„Estonia“ Foto: dpa

800 Tote
Die tansanische Fähre Spice Islander I kentert am 10. September 2011 auf dem Victoriasee bei der Fahrt von Bukoba nach Mwanza etwa 30 Kilometer nordwestlich des Zielhafens. Rund 800 Menschen kommen ums Leben, 120 konnten gerettet werden. Es ist eine der größten Schiffkatastrophen auf einem Süßwassersee.

800 Tote
Die philippinische Fähre Princess of the Stars ist auf dem Weg von Manila nach Cebu City, als sie in den Taifun Fengshen gerät. Am 22. Juni 2008 sinkt das Schiff vor der Küste der philippinischen Insel Sibuyan. Von rund 850 Menschen an Bord können nur 56 lebend geborgen werden.