Vor 30 Jahren fiel die Mauer – der Jubel darüber ist Ernüchterung gewichen. Zu Unrecht, wie Chefredakteur Christoph Reisinger kommentiert.
Stuttgart - Es hätte auch ganz anders laufen können. Das stets im Blick zu behalten gehört zu jeder ernsthaften und unvoreingenommenen Betrachtung von Geschichte. Auch der deutschen seit dem Fall der Ost von West trennenden Schandmauer.
Zu dieser Geschichte gehört unbestreitbar: die deutsche Einheit auch nach 30 Jahren nicht vollendet, in Teilen ungleiche Einkommens- und Lebensverhältnisse, ein im Osten zu Recht empfundener Mangel an Respekt vor der Lebensleistung ehemaliger DDR-Bürger, ein wachsendes Misstrauen vieler Menschen gegen Demokratie, Rechtsstaat, klassische Medien, Mandats- und Amtsträger. War der Fall der Mauer also gar nicht der historische Glücksfall, als der er so oft beschrieben und 1989 von der weit überwiegenden Mehrheit in Deutschland und weit darüber hinaus empfunden wurde?
Die angemessene Antwort liegt in der Betrachtung der Alternativen: Die poststalinistische Ordnung, moralisch restlos diskreditiert, hätte die Länder östlich des Eisernen Vorhangs vollends ruiniert. Ihr – dann wohl gewaltsames – Übergreifen auf den freien Teil Europas bleibt eines der ganz großen Horrorszenarien, das dem Kontinent glücklicherweise erspart geblieben ist.
Es ist nicht so, dass nichts erreicht wäre
Andere denkbare Alternativen entbehren der Grundlagen. Das SED-Regime und seine Artverwandten kannten keinen Weg, die Misere zu mindern. Denn jeder wäre mit einem Abrücken vom totalitären Herrschaftsanspruch, mit Selbstaufgabe verbunden gewesen. Sogenannte dritte Wege, von manchen vor 1989 erträumt und danach, sind weltweit jeden Nachweis schuldig geblieben, dass sie Menschen in eine glücklichere Zukunft geführt hätten.
Vor diesem Horizont nehmen sich Einheits-Defizite wie die noch nicht erreichte Angleichung von Ost- und West-Renten in ihrer historischen Dimension ziemlich bescheiden aus. Und es ist ja nicht so, dass nichts erreicht wäre. Wer sich mit offenen Augen durch Deutschland bewegt, wer sich nostalgiefrei an die mLebensverhältnisse von damals erinnert, sieht und weiß das.
Umso mehr drängt sich die Frage auf, warum nicht froher auf den Mauerfall zurückgeblickt wird. Warum das politische System, die Freiheit, die vergleichsweise breite Verteilung des Wohlstands weniger Wertschätzung erfahren als noch vor zehn Jahren.
Was – abzulesen nicht zuletzt an den jüngsten Landtagswahlergebnissen – für die östlichen Bundesländer besonders gilt, die besonders vom Mauerfall profitiert haben. Und bezeichnenderweise ebenso in der osteuropäischen Nachbarschaft, wo es seit Jahren die politischen Kräfte vom Schlage der Kaczynski, Orban, Babis sind, die Mehrheiten an sich binden. Politiker, die auf die Freiheitshelden von 1989 spucken. Und ebenso auf die EU, auf Parlamentarismus, Gewaltenteilung, gesellschaftliche Diversität.
Es hätte anders laufen können
Als treibende Kraft hinter diesen Entwicklungen wird eine große Verunsicherung deutlich. Dieses Wir-sind-nicht-mehr-Herren-im-eigenen-Haus-Gefühl, das immer weiter um sich greift. Sei es wegen der negativen Globalisierungsfolgen, sei es wegen des Klimawandels, sei es aus anderen Gründen. Die immer lautere, gröbere und vergröbernde Kommunikation im Netz verstärkt dieses Gefühl dramatisch und trägt dazu bei, dass auch die Wahrnehmung der eigenen Geschichte immer mehr geprägt ist von eben dieser Verunsicherung.
Das macht den 9. November mehr denn je in Deutschland zum Tag, daran zu erinnern: Es hätte auch ganz anders laufen können. Und zwar wesentlich schlechter.
christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de