Was machen die Weltmeister von 1990? Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie. Foto: dpa

Sportchef Gunter Barner erinnert sich an die WM 1990 – ein Abenteuer in Italien. Dazu werfen wir einen Blick auf die Weltmeister von gestern – was machen sie heute?

Kürzlich hatte ich ihn mal wieder am Telefon. Jan aus Flensburg. Verträgt die Hitze noch immer nicht gut. Schreibt jetzt viel über Handball, den THW Kiel. Wahrscheinlich ist das besser so. Damals, vor 25 Jahren, war sein Gesicht so rot wie die Abendsonne über dem Comer See. Und von seiner Stirn floss der Schweiß, als hätten wir zweimal 90 Minuten mit Verlängerung gespielt. Dabei saß er nur auf der Bank – auf der Rückbank unseres Polo und jammerte: „Heiß, heiß.“ Und bettelte: „Luft, ich brauch’ Luft.“

Aber Deutschland stand im WM-Finale gegen Argentinien, im Radio röhrte Gianna Nannini die WM-Hymne. Und wir grölten mit: „Un estate italiana.“ Was für ein grandioser Sommer, was für ein unfassbares Glück, das alles als Reporter erleben zu dürfen. Gemessen daran waren die 620 Kilometer zwischen Como und Rom, in sengender Hitze, mit zwei Kollegen in einem überladenen Kleinwagen, ohne Klimaanlage und ohne Navi, eine Herausforderung, die wir klaglos zu meistern hatten.

So klaglos, wie wir vor dem ersten Vorrundenspiel gegen Jugoslawien im defekten Außenaufzug des Giuseppe-Meazza-Stadions verharrt hatten. 15 Minuten. Im Stahlkäfig, 20 Meter über dem Boden. Und klar, Jan hatte Höhenangst. Es ist wichtig, sagten wir, ab und an seine Grenzen auszuloten.

Wie wichtig das ist, erklärte mir am Abend kurz vor dem Finale ein freundlicher Signore, der mich auf dem Weg zur Pressetribüne im Olympiastadion lächelnd an meiner Akkreditierung zupfte: „Ah, Sie sind Reporter aus Deutschland . . .“ Dann diskutierte er mit mir über den unbändigen Willen des Jürgen Klinsmann, der in einem legendären Achtelfinale die Niederländer fast im Alleingang bezwungen hatte (2:1).

Als Rudi Völler nach einer Spuckattacke von Frank Rjikaard zusammen mit dem Holländer vom Platz geflogen war, erwachte im Bäckersohn aus Botnang sein unbeugsamer Sinn für Gerechtigkeit. Guido Buchwald machte den Übersteiger, Klinsmann grätschte seine Flanke zum 1:0 ins Tor. Und der Reporter aus Stuttgart stand auf seinem Stuhl. Stolz wie Oskar. Mit geballter Faust. Schwabenpower! Das war zwar ein grober Verstoß gegen berufliche Sitten, aber wer in dieser fiebrigen Sommernacht in Mailand noch ruhig sitzen konnte, war entweder ein Eisschrank oder ein Mensch gewordener Bandscheibenschaden.

„Und Buchwald?“ Die Augen des Signore verengten sich zu winzigen Schlitzen: „Glauben Sie, dass er Maradona ausschalten kann?“ Ich nickte heftig: „Unser Diego kann das.“ Da strich er nachdenklich über sein bärtiges Kinn. Eigentlich, murmelte er, hätte er den Titel ja seinen Italienern gegönnt. Aber die Squadra Azzurra war im Halbfinale unglücklich gegen die hölzernen Argentinier ausgeschieden. Ich saß irgendwo bei Parma in einer Kneipe, als die Welt der Tifosi mit Zenga, Baresi, Baggio und Maldini in einem Meer aus Tränen unterging. 4:5 im Elfmeterschießen. Nie wieder habe ich Menschen vor einem Fernseher so flehen, fluchen, leiden, trauern und weinen sehen. So ist Fußball. Voller großer Gefühle.

Am Tag danach besiegte die deutsche Elf in Turin die Engländer, ebenfalls im Elfmeterschießen (5:4). Paul Gascoigne war so enttäuscht, dass er nach dem dramatischen Halbfinale versehentlich in den deutschen Mannschaftsbus kletterte. Erst als ihm Klinsmann auf die Schulter tippte, dämmerte ihm der Irrtum: „Shit!“

Dann das Endspiel. „Es würde mich für Franz Beckenbauer sehr freuen“, sagte der Signore mit der markanten Stimme und verschwand hinter einer der Türen, auf der in großen Lettern stand: Only Vips! Seltsam, irgendwie war mir, als hätte ich den netten Herrn irgendwo schon mal gesehen.

85. Minute. Bitte, lieber Gott! Mach, dass alles gut wird. Brehme versenkte den Elfer. Deutschland feierte den dritten WM-Titel nach 1954 und 1974. Der Kaiser schlenderte – von der Welt entrückt – über den Rasen. Und ich war in diesem Orkan aus Glück und Jubel überwältigt vom erhabenen Gefühl, mit das Größte erlebt zu haben, was der Sport zu bieten hat. Mille grazie, Italia.

Wochen später entdeckte ich den Signore im Fernsehen. „Da, da! Der, da“, rief ich. „Typisch“, sagte meine Frau vorwurfsvoll, „das ist Mario Adorf. Du kennst eben nur Fußballer.“