„Das Kapital“ ist Geschichte, doch Marx’ Ideen leben fort (Marx’ Figuren des Konzeptkünstler Ottmar Hörl in Trier, 2013). Foto: dpa

Die Kapitalismuskritik feiert Geburtstag: Vor 150 Jahren erschien „Das Kapital“ von Karl Marx. Nach dem Mauerfall als erledigt betrachtet, erleben das Buch und sein Autor seit der Finanzkrise eine bemerkenswerte Renaissance.

Stuttgart - Tagein, tagaus hockte Karl Marx im Lesesaal der British Library in London und recherchierte für sein großes Buch – die „ökonomische Scheiße“, wie er es selbst nannte. Mitunter hatte der deutsche Philosoph eine monatelange Schreibblockade, mal wegen eines Leberleidens, dann wegen eines Penis-Geschwürs, das er seinem Geldgeber und Mitstreiter Friedrich Engels ausführlich beschrieb.

Schließlich, nach mehr als zehnjähriger Arbeit, war es 1867 doch so weit. „Das Kapital“ war fertig. Genauer gesagt: der erste Band. „Hurra!“, jubelte Engels. Am 14. September erschien es in Hamburg – und nichts passierte. Seinen großen Durchbruch hat der 1883 gestorbene Marx nicht mehr erlebt. Band 2 und 3 des „Kapitals“ wurden erst nach seinem Tod von Engels herausgegeben.

„Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!“

Im Rückblick von 150 Jahren lässt sich sagen, dass es nach der Bibel nur wenige Bücher gegeben hat, die die Weltgeschichte so nachhaltig beeinflusst haben. Lenin, Stalin, Mao, Che Guevara und Fidel Castro – sie alle beriefen sich darauf. Marx war ihr Guru, das „Kapital“ ihre Heilige Schrift. Der große Spötter Marx hätte dazu sicher eine passende Bemerkung parat gehabt. Gegen eine Vereinnahmung durch andere hat er sich stets gewehrt. Als er einmal erfuhr, dass sich eine neue Partei in Frankreich als marxistisch bezeichnete, erwiderte er: „Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!“

Gesamtauflage? Unbekannt!

Wie hoch die Gesamtauflage des „Kapitals“ inzwischen ist, weiß niemand. Doch nur die wenigsten schafften es, sich wirklich durch den ganzen Wälzer zu arbeiten. So gab der britische Labour-Premierminister Harold Wilson (1916-1995) unumwunden zu: „Ich bin nur bis Seite zwei gekommen.“

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks hielt man Marx zunächst für erledigt. Das „Ende der Geschichte“ wurde ausgerufen, jetzt sollte nur noch Kapitalismus sein bis zum Ende der Zeiten. Aber spätestens mit dem drohenden Banken-Kollaps von 2008 erlebte Marx eine zunächst unerwartete Renaissance.

Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise war das „Kapital“ sogar kurzzeitig vergriffen. Als Krisentheoretiker und Kritiker des freien Marktes ist Marx seitdem wieder gefragt. Der heutige Labour-Chef Jeremy Corbyn würdigt ihn als „großen Ökonomen“. Ein solches Bekenntnis wäre auf der Insel früher politischer Selbstmord gewesen.

Marx’ klassenlose Gesellschaft ist ein Traum geblieben

Marx’ provokanteste These ist, dass der Kapitalismus früher oder später an sich selbst zugrunde geht. Dies war für ihn ein „Naturgesetz“. Seine Argumentation geht ungefähr so: Die Unternehmer befinden sich in einem fortwährenden, mörderischen Konkurrenzkampf gegeneinander und müssen ihre Waren deshalb immer billiger herstellen.

Mit der Zeit gehen mehr und mehr Wettbewerber pleite, übrig bleiben wenige, aber dafür riesengroße Konzerne. Gleichzeitig wächst das Heer der schlecht bezahlten oder arbeitslosen Proletarier. Irgendwann kippt das – die Revolution bricht aus, der Kommunismus ist da. Notfalls soll eine „Diktatur des Proletariats“ nachhelfen, bis der Wechsel zur „klassenlosen Gesellschaft“ vollzogen ist.

Marx selbst rechnete damit, dass der Übergang zum Kommunismus in den hoch entwickelten Industrieländern seiner Zeit – das waren vor allem Großbritannien und Belgien – bald bevorstand. Bekanntlich ist es dann doch alles anders gekommen. Ist deshalb aber alles falsch? „Mitnichten“, sagt der frühere Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Hans-Werner Sinn. Vor allem seine Krisentheorien seien heute wieder „hochaktuell“.

Immer noch aktuell

Zutreffend war in jedem Fall Marx’ Prognose, wonach der Kapitalismus zur Konzentration neigt, zur Herausbildung einiger weniger weltumspannender Unternehmen. Die von Marx angestrebte Verstaatlichung der Produktionsmittel sei gerade in der heutigen Weltwirtschaft jedoch kaum möglich, urteilt Theocharis Grigoriadis, Spezialist für Volkswirtschaftslehre Osteuropas an der Freien Universität Berlin: „Sie könnte zu großen Erschütterungen führen.“

Marx war übrigens alles andere als ein Dogmatiker. Bis zuletzt hat er auch den schon erschienenen ersten Band des „Kapitals“ immer wieder umgeschrieben. An den heutigen Debatten hätte er sich sicher beteiligt – leidenschaftlich, witzig und polemisch, so wie es seine Art war.