Bernhard Siegle (links) und sein Nachfolger Markus Metz. Aktuell sind beide Geschäftsführer der Gesellschaft Atrio Leonberg. Ende des Monats geht Siegle in Ruhestand. Foto: Simon Granville

Der Leonberger Unternehmensverbund Atrio treibt in der Region die Inklusion von Menschen mit Behinderung, voran. Mehr als zwei Jahrzehnte prägte Bernhard Siegle das Atrio. Ende des Monats gibt er die Geschäftsführung ab an Markus Metz.

Atrio steht für die Mehrgenerationenhäuser in Gerlingen und Leonberg, Projekte in Ditzingen und Weil der Stadt – der Leonberger Unternehmensverbund treibt in der Region die Inklusion von Menschen mit Behinderung voran. Mehr als zwei Jahrzehnte prägte Bernhard Siegle das Atrio. In dieser Zeit wurde die betreuten Menschen mit Behinderung zu Klienten. Siegle übergibt die Geschäfte am Monatsende an Markus Metz.

Herr Metz, ist Inklusion in den vorhandenen Strukturen überhaupt möglich?

Metz: Wir wollen die vollständige Inklusion schaffen, aber das ist ein politisches Brett, das man bearbeiten muss. Es ist eine deutsche Eigenart, dass wir in der Eingliederungshilfe auf den Euro genau auf den Anteil schauen, der der Zielgruppe zukommt. Wenn die Werkstatt für behinderte Menschen mit einem Betrieb kooperiert, müsste man markieren, wie viel Fläche über die Eingliederungshilfe finanziert ist. Wir müssen da hinkommen, mit einer gewissen Leichtigkeit zu sagen „Wir machen das jetzt!“, ohne rechtliche Linien zu übertreten. Wir wollen einerseits einen offeneren, unternehmerisch gedachten Sozialmarkt schaffen...

Dazu gehören etwa die Kinder- und Jugendhilfe sowie die Behindertenhilfe.

Metz: Andererseits sind wir in kleinteiligen Strukturen gefangen. Dadurch darf man sich aber nicht abschrecken lassen.

Zur vollständigen Integration gehört die Wirtschaft. Herr Siegle, was hat sich in den vergangenen 20 Jahren getan?

Siegle: Die Frage war, wie wir aus der Werkstatt in die Betriebe kommen, damit sich die Menschen mit Behinderungen vor Ort erproben können. Daraus sind Angebote entstanden, die es heute noch gibt – wie das Jobcoaching oder eine Berufsorientierungsgruppe. Das entstand nicht aus dem leeren Raum, sondern im Austausch mit Menschen mit Behinderungen. Die Porsche-Arbeitsgruppe gibt es schon sehr lange, sie ist jetzt in Sachsenheim im Ersatzteillager tätig. Im Jobcoaching kooperieren wir mit mittelständischen oder Handwerksbetrieben und suchen nach Arbeitsmöglichkeiten für Einzelpersonen. Es ist weniger der Fall, dass Betriebe auf uns zugekommen sind.

Metz: Die Betriebe, die sich engagieren, haben dies nicht allein aus dem Druck heraus getan, weniger Ausgleichsabgaben bezahlen zu müssen. Sie wollten sich engagieren.

Muss der politische Druck wachsen?

Metz: Ich glaube, es würde nicht ausreichen, den politischen und finanziellen Druck zu erhöhen. Es müsste sich massiv in den Unterstützungssystemen etwas verändern, um den Übergang zu gestalten. Es gibt in Vorarlberg das Modell, lebenslang auf Jobcoaching zurückgreifen zu können. Nachdem das eingeführt war, war die Bereitschaft in Unternehmen viel größer, weil sie nie alleingelassen wurden mit der Situation. Ich glaube, dass es bei vielen Vorbehalte gibt, die gar nicht ungerechtfertigt sind. Die Unternehmen können die Situation zunächst nicht einschätzen. Eine temporäre Förderung ist endlich. Aber die Behinderung geht nicht weg, weil die Person im Betrieb ist.

Was folgt daraus?

Metz: Wir müssen einen Arbeitsmarkt schaffen, der Inklusion auch zulässt. Das funktioniert nicht, indem man die Betriebe zwingt, sondern politische Anpassungen in der Systematik vornimmt, auch der Eingliederungshilfe, und die Betriebe sensibilisiert. Das ist kein Weg, der morgen zu Ende gedacht ist. Wir sehen ja gerade, was in der Welt passiert – Globalisierung und Shareholder Value – da ist der Mensch mit Behinderung nicht unbedingt ein Faktor mit Relevanz.

Doch im Atrio steht er im Mittelpunkt. Herr Siegle, hat sich die Arbeit in 20 Jahren grundlegend gewandelt?

Siegle: Es ging zunächst darum, ein Angebot zu machen, damit die Menschen mit Behinderungen zufrieden sind. Zugleich sollten die Leistungen standardisiert sein. Über die Jahre wurden die Menschen mit Behinderungen selbstbewusster, wollten eigene Vorstellungen zu ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung einbringen. Die standardisierten Angebote waren zu differenzieren, sodass man den Wünschen auch entsprechen konnte. Vereinfacht gesagt: Zu Beginn konnte man in einer Werkstatt arbeiten. Heute bietet die Werkstatt unterschiedlichen Arbeitsangebote und Teilhabe an Arbeit an, in der Montage, in der Hauswirtschaft, in der Produktion von Zulieferteilen für die Automobilindustrie, im Kreativwerk. Dies kann in Werkstätten oder Betrieben vor Ort erfolgen.

Herr Metz, hat dieser Wandel auch Ihre bisherige Arbeit geprägt?

Metz: Ich bin seit elf Jahren in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und bringe einen anderen Fokus rein. Heute steht nicht mehr die Organisation im Zentrum, sondern der Mensch. Das ist eine positive Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren, weil individualisiert auf die Bedarfe der Menschen eingegangen werden kann. Das ist aber meines Erachtens noch lange nicht in letzter Konsequenz in den Organisationen angekommen.

Siegle: Man schaute zunächst auf die Organisation, dann zunehmend auf die Person.

Was war der Anlass, stärker auf den Menschen zu schauen?

Siegle: Die Personen sind selbstbewusster, aber auch die Angehörigen treten eher für ihre Rechte und Forderungen ein. Diese Entwicklung fällt auf fachlichen und politischen Boden in dem Maße, wie sich Menschen mit Behinderungen zu Wort melden in der Region, im Land und im Bund und das Gegenüber bereit ist, zuzuhören. Auf politischer Ebene gibt es die Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz. Hochschulen füllen das mit Konzepten aus. Es ist ein Zusammenspiel von Betroffenen, Politik, Fachöffentlichkeit und Einrichtungen.

Wie wurde der Mensch selbstbewusster?

Metz: Es gibt einen gesellschaftlichen Druck, der uns alle betrifft. Wir haben ja alle eine starke Individualisierung in den vergangenen 30, 40 Jahren erfahren, das geht an Menschen mit Behinderungen nicht vorüber. Der Mensch hat eine ganz andere Vorstellung von Partizipation. Das eine ist der beschützende Ansatz in der Pädagogik, der wichtig war nach den Jahren des Nationalsozialismus, die in Deutschland zu einem schlimmen Umgang mit dem Personenkreis geführt hatte. Der andere Ansatz ist, dem Menschen die völlige Freiheit zu geben, über sein Leben mit der nötigen Assistenz zu entscheiden. Da sind wir noch lange nicht.

Das muss man als Organisation wollen.

Siegle: Wir im Atrio haben das befeuert mit den Mitarbeitern, die Konzepte entwickeln wollen. Wir haben uns den Anforderungen an eine Weiterentwicklung gestellt, das war mir persönlich wichtig, man kommt ja auch selbst mit eigenen Wertvorstellungen und einer Haltung in die Organisation.

Metz: Man begegnet allen Menschen auf Augenhöhe, betrachtet den Menschen mit Behinderung als gleichwertiges Gegenüber und ist mit ihm im Austausch.

Eltern haben bisweilen aber eine andere Meinung als ihre Kinder.

Siegle: Ich schaue auch auf Augenhöhe auf die Argumente der Angehörigen. Das heißt nicht, dass ich aus allem, was mein Gegenüber formuliert, gleich einen Handlungsauftrag ableite. Sagen Angehörige, es sei das Beste für Sohn oder Tochter, ein Leben lang beschützt und umsorgt zuhause zu leben, steht das im Widerspruch zu der Vorstellung, dass sich ein Mensch eigenständig entwickeln kann und auch andere Vorstellungen hat. Da stößt man an Grenzen. Das sind aber Einzelfälle. Die Vorstellung der Angehörigen entwickelt sich auch weiter.

Metz: Das Gegenüber zu unterschätzen, ist eine Erfahrung, die die Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen macht: Dass es schwer ist, eine Augenhöhe zu erreichen, wenn offensichtlich eine gewohnte Kommunikation nicht möglich ist. Das erlebt man als Geschäftsführer nicht tagtäglich, aber das sind die Dinge, die mich antreiben. Da ist viel Potenzial, auch beim Übergang von Bildung und Arbeit. Und es gibt Entwicklungsperspektiven für die Menschen, wenn wir die richtigen Assistenzangebote bieten.

Vieles muss sich offenbar entwickeln. Aber was drängt an meisten?

Metz: Das Thema Personal gewinnen, halten, qualifizieren. Das steht sicher ganz oben auf der Agenda. Gebäude, Strukturen, die verändert wurden, treten in den Hintergrund. Empowerment und Umgang mit den Mitarbeitern gewinnen stärker an Bedeutung.

Empowerment bedeutet, Menschen zu ermächtigen, das Leben selbst zu gestalten. Können Sie ein Beispiel nennen?

Metz: Eine Frau hatte Probleme mit der Essensaufnahme. Sie hatte sich mehrfach so verschluckt, dass es lebensriskant war. Der Arzt ordnete an, ihr nur noch pürierte Nahrung zu geben. Vor Jahren hätte man das wohl einfach gemacht. Aber die Frau setzte sich durch, obwohl sie sich nicht schriftlich oder sprachlich verständigen kann und hat erreicht, dass sie wieder feste Nahrung zu sich nehmen darf – obwohl das Risiko unverändert hoch ist. Das ist ein Beispiel dafür, was die Mitarbeiter täglich leisten, um das Empowerment zu stärken. Letztlich geht es darum, in allen Bereichen einen durchlässigen Lebensraum zu schaffen, um die Menschen in die Gesellschaft einzubinden. Da sind wir noch lange nicht.

Es gibt verschiedenste Assistenzen.

Metz: Die Frage ist, welchen Bedarf man hat und wie man ihm gerecht werden kann. Was ist an dieser Stelle Lebensqualität? Ist es Lebensqualität, einen Menschen bei Daimler am Band zu inkludieren mit einem riesigen Assistenzpaket, das von öffentlicher Hand finanziert wird? Da würde diese wohl sagen, das sei zu teuer. Die Wahrheit liegt dazwischen. Und dass persönliche Assistenzen die Institution Werkstatt ersetzen, sehe ich in absehbarer Zeit noch nicht. Dazu ist weder der Arbeitsmarkt in der Lage noch der Assistenzmarkt da. Es wäre für viele auch nicht der Weg zu mehr Lebensqualität.

Wer bestimmt, was Lebensqualität ist?

Metz: Das sollte die Person selbst entscheiden. Wo endet die Zuständigkeit des einen, wo die der Institution, wo steht der erwachsene Mensch für sich selbst? Wir müssen den Menschen die Macht geben, selbst zu bestimmen.

Zurück zu den Mitarbeitern. Was macht einen attraktiven Arbeitgeber aus?

Metz: Wir müssen das Thema attraktive Arbeit für beide Seiten denken, wir müssen noch mehr investieren, um wettbewerbsfähig zu werden mit dem Schwamm, der die Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt saugt. Wir konkurrieren mit öffentlichen Strukturen, etwa den Landkreisen, mit Mitbewerbern aber auch mit dem Pflegebereich. Wenn es den Klienten des Wohnbereichs gut geht, werden die Mitarbeiter dort gerne arbeiten, und wenn die Mitarbeiter dort gerne arbeiten, geht es den Klienten gut.

Sie realisieren verstärkt Projekte in Kooperation mit der Kommune. Wird die Arbeit des Geschäftsführers politischer?

Siegle: Zwangsläufig. Wenn wir ins Gemeinwesen eintauchen wollen, brauchen wir die Kommune für die Rahmenbedingungen, aber auch hinterher in der Zusammenarbeit. Oder nehmen Sie das geplante Straßenkunstfestival in Leonberg. Auf unserem Gelände können wir ein Festival mit Künstlern machen, aber die Entwicklung geht ja dahin, mitten in den Ort zu gehen, auf den Marktplatz, um die Menschen direkt anzusprechen. Das wollen wir mit dem Straßenkunstfestival am 1. Juli erreichen.