In Winterbach hat Ali Reza Gholami alles gegeben, um sich eine Zukunft aufzubauen. Doch die politische Diskussion um Abschiebungen gefährdet sein neues Leben. Dabei steht er kurz vor der Verwirklichung eines Lebenstraums.
Als Folge des Anschlags von München wird in Deutschland erneut über Abschiebungen nach Afghanistan gestritten. Selbst vorbildlich integrierte Menschen geraten in Gefahr, in Sippenhaft genommen zu werden. Wie Ali Reza Gholami, der mit seiner Familie in Winterbach lebt. Sein Beispiel aber zeigt, was Integration leisten kann – und warum Deutschland für ihn und viele andere Geflüchtete zur Heimat geworden ist.
Ali Reza Gholamis Geburtsort Baghlan im Norden Afghanistans war immer vom Krieg gezeichnet. Die Taliban, die sowjetische Besatzung, die bürgerkriegsartigen Zustände der letzten Jahrzehnte – der Junge wuchs in einem Umfeld ständiger Gefahr auf. Mit 17 Jahren schickten ihn seine Eltern in den Iran, um ihn vor dem Zwang zu kämpfen zu bewahren. Doch auch dort war das Leben alles andere als sicher. Die staatenlosen Afghanen wurden in Teheran zwar geduldet, aber als Menschen zweiter Klasse behandelt. Ständig drohte die Abschiebung, das Arbeitsleben war von Unsicherheit geprägt. Als der Iran begann, afghanische Männer für den Krieg in Syrien zu rekrutieren, blieb wieder nur noch die Flucht.
Die Flucht: 27 Stunden zu Fuß über die Berge in die Türkei
2015, im Jahr der großen Flüchtlingswelle, brachen Gholami, seine Frau Halima und ihre Kinder Nazanin und Amir nach Europa auf. Das vage Ziel: „Germany“. 27 Stunden zu Fuß über die Berge in die Türkei, mit nicht mehr als dem, was sie am Körper trugen. Keine Koffer, kein Gepäck – „wir konnten nur die Kinder tragen“, erklärt Gholami warum. In Istanbul verbrachten sie die ersten Nächte in Parks, bevor sie sich in ein völlig überladenes Boot nach Griechenland wagten. Schleuser nahmen ihnen für die gefährliche Überfahrt viel Geld ab. „Die Kinder hatten Angst, Amir sprach tagelang kein Wort mehr“, erzählt Gholami.
Irgendwie kamen sie an. Weiter ging es mit Bus oder Zug, oft zu Fuß, immer der Menge nach, die wie ein unsteter Strom nach Westen floss. Schließlich erreichten sie München – und wussten nicht einmal, wo sie waren. „Willkommen in Deutschland!“, rief jemand. Deutschland? Diesen Namen hatte Gholami noch nie gehört. Erst als er verstand, dass dies jenes „Germany“ war, aus dem die Mercedes-Autos stammten, die er im Iran als Karosseriebauer kennen und schätzen gelernt hatte, war ihm klar: „Hier bleiben wir.“
Neustart in Winterbach: Vom Flüchtling zum Musterbeispiel
Die deutsche Bürokratie schickte die Familie erst einmal herum. Nach Monaten unter anderem in umfunktionierten Messehallen am Stuttgarter Flughafen fanden sie in Winterbach ein erstes Zuhause – in einem ehemaligen Hotel, das als Unterkunft für Geflüchtete diente. Gholami nahm dort jede Arbeit an, um die Fahrtkosten zu einem Deutschkurs nach Winnenden zu finanzieren, den er unbedingt machen wollte. Selbst für das Reinigen der Toiletten in der Unterkunft war er sich nicht zu schade. Sein Einsatz blieb nicht unbemerkt. Die Winterbacher Familie Klopp, ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe vor Ort engagiert, nahm ihn unter ihre Fittiche.
„Der Doktor“, wie Gholami den Kinderarzt Hans-Weert Klopp noch heute ehrfurchtsvoll nennt, vermittelte ihm nicht nur eine Wohnung, die er selbst renovierte, sondern auch einen Job in einer Karosseriewerkstatt. Doch Gholami wollte mehr. „Deutschland ist das Land der Papiere“, sagt er. Statt einer sofortigen Anstellung bat er darum – damals immerhin bereits 39 Jahre alt – eine Ausbildung machen zu dürfen.
Das große Ziel: Eine eigene Werkstatt
Nach der bestandenen Ausbildung als Karosseriebauer hätte er eine gut bezahlte Stelle annehmen können, doch er wollte weiterlernen. „Ich will alles verstehen, auch die Elektronik der Autos“, sagt er. Also begann er 2023 seine zweite Ausbildung, diesmal als Kfz-Mechatroniker. Gleichzeitig besucht er Abend- und Wochenendkurse, um den Meistertitel im Karosseriebau zu erlangen.
Denn sein großes Ziel ist eine eigene Werkstatt. „Ich will mein eigener Chef sein“, sagt Gholami selbstbewusst. „Ich kann Karosseriebau und Mechatronik. Das ist ein Vorteil.“ Dass es ein Risiko ist, die sichere Anstellung aufzugeben, glaubt er nicht: „Wenn du in Deutschland eine Werkstatt aufmachst, hast du nach zwei Monaten genug Arbeit, wenn du gut bist. Es gibt immer etwas zu tun.“
Auch Alis Frau Halima möchte arbeiten
Auch Halima möchte arbeiten, am liebsten als Erzieherin. Dafür muss sie noch einen B-2-Deutschkurs absolvieren. „Ich konnte mich lange nicht so intensiv auf die Sprache konzentrieren, weil ich mich um die Kinder gekümmert habe“, sagt sie. „Sie hat mir den Rücken freigehalten, damit ich meine Ausbildungen machen konnte“, sagt ihr Mann dankbar. Die drei Kinder – Zeinab ist 2016 in Schorndorf geboren – sprechen längst fließend Deutsch, besuchen Schulen in Schorndorf und Winterbach, treiben Sport, haben Freunde – und ihre eigenen Träume. Zeinab etwa möchte entweder Astronautin oder Friseurin werden, wie sie sagt. Doch ihre Zukunft ist trotz aller Bemühungen nicht ganz sicher. Der Aufenthaltsstatus der Familie ist noch nicht dauerhaft geklärt.
Zurück nach Afghanistan? Undenkbar
„Aber Deutschland ist unsere Heimat“, sagt Gholami. „Nicht nur in meinem Kopf, sondern in meinem Herzen.“ Zurück nach Afghanistan? Undenkbar. „Jeden Tag wird es dort schlimmer. Das kann man nicht mehr reparieren.“
Das Attentat von München macht auch Gholami tief betroffen. „Ich kann nicht begreifen, was den Mann zu seiner Tat getrieben hat. Aber es spielt keine Rolle, welche Nationalität er hat. Die Tat muss bestraft werden – und vor allem muss dafür gesorgt werden, dass so etwas nie wieder passiert.“ Dass jemand denken könnte, es helfe, Menschen wie ihn und seine Familie aus Deutschland zu vertreiben, kann er sich nicht vorstellen. „Wie gesagt: Deutschland ist doch unsere Heimat.“
Werkstatt gesucht
Kontakt
Zur Verwirklichung seines Lebenstraums fehlt Ali Reza Gholami eigentlich nur noch eine eigene Werkstatt. Wer von einer Halle oder Räumlichkeiten möglichst mit einer Hebebühne in der Region weiß, wird gebeten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Telefonisch unter 0178 / 5 53 87 35 oder per E-Mail an: alireza-gholami@gmx.de.