Alles für die Gesundheit: dem Bad schließt sich ein Balkon an, das sogenannte Luftbad. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Wenn am Samstag die Bürger erstmals öffentlich ihre Ideen zum künftigen Rosensteinviertel diskutieren, rückt unweigerlich auch eine Ikone Stuttgarter Architektur ins Blickfeld: Was kann man aus der Geschichte der Weißenhofsiedlung lernen?

Stuttgart - Der Blick von oben verführt zur Schwärmerei. Man steht auf der Dachterrasse einer Ikone, schaut hinunter auf eine Stadt, die schier platzt in ihrem Kessel, und glaubt, wenigstens einen verklärten Moment lang, an der Quelle der möglichen Lösung zu sein. Wenige Häuser sind je so innovativ gewesen wie jenes, das Le Corbusier vor knapp neunzig Jahren in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung bauen ließ. Der Schöpfer und sein Werk machten Schluss mit Schnörkeln, Stuck und Erker. Stattdessen wollte der Architekt den Menschen Licht und Luft spendieren, zur Förderung der Gesundheit und zur Freude des Geldbeutels, denn bezahlbar sollten seine Bauten auch noch sein. Nichts weniger war der Anspruch von Le Corbusier und seinen 16 Kollegen, als sie 1927 mit der Werkbundausstellung „Die Wohnung“ die Architektenszene ebenso aufmischten wie die Stadtgesellschaft. Und nichts weniger haben sie auch geschafft.

Doch was heißt das für die Bürger, die sich an diesem Samstag auf den Weg ins Stuttgarter Rathaus machen, um in einem neuartigen Beteiligungsverfahren für das künftige Rosensteinviertel Lebensgefühl, Wohnqualität und Verkehr in Einklang zu bringen? Können sie etwas lernen aus der Geschichte jener Siedlung, die der Regierungsbaurat und Weißenhof-Sanierer Hermann Nägele in den achtziger Jahren als „das bedeutendste Kulturdenkmal in Stuttgart“ bezeichnete?

Es soll nicht nur flächenmäßig etwas großes entstehen, sondern auch ideell

Immerhin scheinen sich die meisten Bürger einig zu sein, dass die 85 Hektar Land, die mitten in der Stadt frei werden, wenn der Bahnhof dereinst unter der Erde liegen wird, eine historische Chance für Stuttgart markieren. Am Rosenstein kann nicht nur flächenmäßig etwas Großes entstehen, sondern auch ideell. Nur was?

Am Anfang steht der Streit. Das muss so sein, wenn der Markt der Ideen eröffnet wird und jeder andere Vorstellungen von gutem Bauen hat. Das war in den 20er Jahren nicht anders. Als der Erste Weltkrieg vorbei war und der erste demokratische Staat auf deutschem Boden laufen lernte, konnte es nicht mehr darum gehen, Paläste und Kirchen zu errichten, vielmehr rückten die Bürger in den Vordergrund – und mit ihnen der Wohnungs- und Siedlungsbau. Doch hinter diesem Leitmotiv, das Politiker und Architekten einte, entwickelten sich auch Feindschaften fürs Leben.

Es müssen turbulente Sitzungen gewesen sein, ehe der Stuttgarter Gemeinderat am 29. Juli 1926 gegen die Stimmen der Deutschnationalen und der Kommunisten beschloss, den Deutschen Werkbund mit dem Ausstellungsprojekt „Am Weißenhof“ zu beauftragen. Die Vereinigung aus Architekten, Künstlern und Unternehmern war bereits 1907 gegründet worden, um sich der „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk“ zu widmen. Der wohl formulierte Anspruch ließ den Mitgliedern viel Freiheit, so viel sogar, dass manche Kollegen im Lauf der Zeit kein Wort mehr miteinander wechselten.

Vor allem Paul Bonatz und Ludwig Mies van der Rohe standen sich unversöhnlich gegenüber. Beide, der eher konservative Bonatz aus Stuttgart und der radikale Modernist Mies aus Berlin, waren zwar geschätzte Mitglieder des Werkbunds, doch unter anderem an der Frage „Sattel- oder Flachdach?“ schieden sich ihre Architektengeister. Entsprechend barsch reagierte Bonatz 1926 auf die Entwürfe seines Kollegen: „Der bisher von Mies van der Rohe eingelieferte Plan der Werkbundsiedlung zeigt einen hoffnungslosen Dilettantismus, er ist praktisch unbrauchbar.“ Als renommierter Mitbegründer der sogenannten Stuttgarter Schule drängte Bonatz den Gemeinderat, Alternativentwürfe einzuholen, und empfahl die Stuttgarter Kollegen Paul Schmitthenner und Richard Döcker.

Mies van der Rohe bekam alle Freiheiten – und nutzte sie weidlich

Doch die Fachleute im Rathaus reagierten anders als von Bonatz erwartet. „Die Bauweise Döckers und Schmitthenners ist hier genug bekannt“, beschieden sie dem Platzhirsch, „damit ist nichts Neues geboten.“ Auch ein Kompromiss sei nicht anzustreben, „da bei den verschiedenen Auffassungen der Architekten eine Zwitterlösung herauskäme“. Die Konsequenz: Bonatz und Schmitthenner traten aus dem Werkbund aus, Mies van der Rohe übernahm die Gesamtleitung des Projekts.

„Die Stadt hat ihn machen lassen“, sagt Anja Krämer. Die Historikerin leitet das Weißenhof-Museum, das inzwischen im Le-Corbusier-Haus residiert. Schon qua Amt ist sie eine der profundesten Kennerinnen nicht nur der Werkbundsiedlung auf dem Killesberg, sondern der Geschichte der 20er Jahre in Stuttgart überhaupt. „Damals“, sagt sie, „wäre es undenkbar gewesen, vor der Planung eines solchen Projekts die Bürger nach ihrer Meinung zu fragen. Extreme Modernisierer waren in der Bevölkerung nicht in der Mehrheit.“

Ob das heute anders ist?

Mies van der Rohe bekam seinerzeit alle Freiheiten – und er nutzte sie weidlich. An den Geschäftsführer der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft des Werkbunds, Gustaf Stotz, schrieb er: „Ich habe die verwegene Idee, alle auf dem linken Flügel stehenden Architekten heranzuziehen, das würde ausstellungstechnisch unerhört erfolgreich sein.“ Also wählte er sie aus und teilte ihnen Parzellen zu: Walter Gropius, Hans Scharoun, Mart Stam, Jacobus J. P. Oud, Adolf Rading, um nur einige zu nennen. Und natürlich Le Corbusier. Er war der umstrittene Star, hatte schon damals einen großen Namen, was auch der Vermarktung des Projekts gut tat.

Dabei hätte Le Corbusier eigentlich gar nicht zugelassen werden sollen. Er stammte aus La Chaux-de-Fonds, was in der Westschweiz liegt und damit sprachtechnisch über der Grenze zum französischen Erbfeind. Es muss ein Fest gewesen sein für Mies van der Rohe, als er die Zusage des prominenten Kollegen bekommen hatte. Dass der Meister zwar einen Plan liefern, die Baustelle in Stuttgart aber nie betreten würde, wusste Mies da noch nicht.

Das Echo war immens

Doch auch der Chef regierte vorwiegend von der Ferne aus. Die Bauleitung vor Ort übertrug er dem Stuttgarter Richard Döcker. Der arme Kerl hatte die undankbare Aufgabe, innerhalb kürzester Zeit ein Großprojekt unter besonderer Berücksichtigung der Launen seiner Architektendiven zu stemmen. Es ging um eine Fläche von 15 000 Quadratmetern, 21 Häuser mit 61 Wohnungen sollten dort entstehen. Die ersten Pläne liefen Ende Dezember 1926 ein, der erste Spatenstich war am 1. März 1927, eröffnet wurde die Ausstellung mit allen Musterhäusern am 23. Juli 1927. Doch die Feier geriet merkwürdig. Döcker und Mies van der Rohe hatten sich in der Hektik des Projekts so entzweit, dass sie nicht mehr miteinander gesprochen haben.

Das Echo war dennoch immens. Rund 500 000 Besucher zählte die Ausstellung bis zu ihrem Ende am 31. Oktober 1927. Meinungsfrei dürfte kaum einer das Gelände verlassen haben: Als genialen Ausweis der Moderne feierten die einen das Ensemble, als Araberdorf und Vorstadt Jerusalems (wegen der Flachdächer) verspotteten es die anderen. Dass die Nazis die Siedlung später als entartet geißelten und abreißen wollten, darf in heutigen Tagen als Kompliment verstanden werden.

„Stuttgarts architektonische Highlights stammen aus dem 20. Jahrhundert, und der Weißenhof ist die bedeutendste unter den sechs Werkbundsiedlungen in Europa“, sagt Ellen Pietrus, die Leiterin der Denkmalschutzes im Stuttgarter Rathaus. Zusammen mit Christoph Schindelin kümmert sie sich um den Erhalt der sogenannten Sachgesamtheit auf dem Killesberg. Aktuell werden die Fenster im Haus von Mies van der Rohe saniert – „ein Mammutprojekt“, wie Schindelin sagt. Und eines, das auch den Planern des neuen Rosensteinviertels zeigen dürfte, wie nachhaltig ihre Ideen in künftige Generationen hinein wirken können.

Der Erfolg wird auch an diesem Samstag zu besichtigen sein. Während sich hoffentlich viele Stuttgarter ins Rathaus begeben, um über den Rosenstein zu diskutieren, fahren die Touristen zur Weißenhofsiedlung. Das Museum im Le-Corbusier-Haus verzeichnete im vergangenen Jahr 26 212 Besucher – elf Prozent mehr als 2014. Und das war schon ein Rekordjahr.