Ein Netz von 1400 Kilometern gibt Stuttgart Struktur. Mehr als 3000

Ein Netz von 1400 Kilometern gibt Stuttgart Struktur. Mehr als 3000 Straßen winden sich die Hänge hinauf, zerteilen die Stadt pfeilgerade oder verstecken sich zwischen Häuserzeilen. In der Serie "Meine Straße" erzählen Stuttgarter, was sie mit der Gegend, in der sie leben, verbinden und verbindet.

Von Klaus Eichmüller

STUTTGART. Wenn Jürgen Kull durch den Schnee die immer steiler werdende Altenbergstraße hochstapft, kommen automatisch wieder die Erinnerungen. Hier ist er vor über 60 Jahren als Kind mit dem Schlitten hinuntergerodelt. Es war eine Schussfahrt ins Glück. Sie begann hinten im tiefsten Taleinschnitt am Steilstück der Altenbergstaffel und endete erst an der Kreuzung Zellerstraße. Meist mit einer Notbremsung. Nur gut, dass in den ersten Nachkriegsjahren dort kaum Autos fuhren.

Heute kommen die Bewohner in der Altenbergstraße, die sich als Sackgasse unterhalb der Neuen Weinsteige an die ehemaligen Weinberge schmiegt, immer noch gern ins Rutschen. Nach Schneefall wird die reine Wohnstraße für die Autofahrer morgens auf dem Weg zur Arbeit zur Rodelbahn. Besonders an den Engstellen, an denen nur für ein Auto Platz ist, spielen sich kleine Dramen ab. "Im Gegenverkehr will keiner in den Tiefschnee ausweichen", sagt Kull, "jeder fürchtet, dort stecken zu bleiben." Die freigeschaufelte Garageneinfahrt vor seinem Haus wird dann zum Zufluchtsort.

Für Kull und seine Eltern war die Altenbergstraße einst selbst Zuflucht. Im Krieg in Gaisburg ausgebombt, kam die Familie 1947 hier im Haus eines Onkels unter. Die alte Weinbergweg war erst zwölf Jahre zuvor in einem Teilabschnitt bebaut worden. "In den zehn, zwölf Hausern gab es damals sicher etwa 40 Kinder", erinnert sich der heute 72-Jährige. Die Straße war der große Spielplatz. Hier tobten die Kinder, hier wurde Völkerball gespielt. "Und der Fußball knallte laut gegen die eisernen Tore der Garagen", sagt Kull. "Sehr zur Freude meines Vaters."

Das gelegentliche Donnerwetter hat die Kinderschar umso enger zusammengeschweißt. "Noch heute treffen sich die Kinder der Altenbergstraße regelmäßig", sagt Kull. Drei von ihnen leben noch hier, der Rest ist inzwischen weit über die ganze Republik verteilt. Sie wohnen in München, Köln, Leipzig und anderswo. Parallel zum steigenden Alter wurde inzwischen der Fünfjahresrhythmus des Treffens auf zwei Jahre verkürzt. Gefeiert wird dann im Evangelischen Ferienwaldheim Altenbergstraße. "Es trifft sich gut, dass meine Tochter dieses Haus bewirtschaftet", sagt Kull. Wenn der Architekt im Ruhestand mit seinen früheren Spielkameraden zusammentrifft, werden bis tief in die Nacht Erinnerungen ausgetauscht. Weißt du noch, damals?

Damals lockte am oberen Ende der Straße, wo in den 70er Jahren große Terrassenhausanlagen entstanden, die Wildnis, ein natürlicher Abenteuerspielplatz in einem bewaldeten Hangeinschnitt. "Für uns war es die Schlucht", sagt Kull. Ein Ort voller Geheimnis und romantischem Zauber. Dort wurden Verstecke gebaut, dort wurde gespielt, von dort schlichen sich die Kinder in die nahen Weinberge. "Wir haben im Herbst Trauben geklaut." Und jeder der gesetzten Herrn, die Jahrzehnte später im Ferienwaldheim in Erinnerungen schwelgen, will bei diesen kleinen Raubzügen natürlich der Mutigste gewesen sein.

Bei diesen Treffen fällt regelmäßig auch der Name Egon Brütsch. "Er war für uns Kinder der Held", sagt Kull. Dort, wo heute ein paar unscheinbare Fertiggaragen stehen, befand sich in den Nachkriegsjahren eine Werkstatt, in der Großes geschah. Dort bastelte ein Rennfahrer an seinen Boliden. Hier waren Alfa-Romeos aufgebockt, hier wurde der berühmte EBS-Maserati aufgemotzt. EBS, also Egon Brütsch Stuttgart, startete damit überall im Land, 1949 auch auf der Solitude-Rennstrecke. Vor 330 000 Zuschauern kamen damals nur zwei Autos beim Formel-II-Rennen ins Ziel. Brütsch wurde mit sieben von zehn Runden auf Platz drei gewertet und damit vor dem Bergkönig Hans Stuck und dem anderen Lokalmatador Hermann Lang, die noch früher ausschieden.

"Brütsch fuhr beim Testen seiner Rennwagen die Altenbergstraße rauf und runter und machte dabei einen Höllenlärm", erinnert sich Kull. "Aber das hat niemanden gestört." Im Gegenteil. Alle waren stolz auf den prominenten Nachbarn. Brütsch, der Erbe eines reichen Fabrikanten von Damenstrümpfen, war bereits vor dem Krieg ein bekannter Rennfahrer. Berühmt, aber umgänglich. "Wir Kinder durften bei ihm immer in die Werkstatt", sagt Kull.

Den Höllenlärm von damals hat Kull zwar immer noch im Ohr, heute aber genießt er die Ruhe der Sackgasse. Auch wenn die Taxifahrer den oberen Teil der Altenbergstraße nicht kennen und Besucher immer in den tiefer gelegenen Teil fahren, der an die Alexanderstraße angrenzt und damit schon fast ans urbane Zentrum.

Vom Verkehr oben auf der Neuen Weinsteige ist in der Altenbergstraße kaum etwas zu hören, nur ein leises Rauschen. "Die Nähe zur Stadt, die zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen ist, und die dörfliche Ruhe haben mich hier gehalten", sagt Kull. "Wer einmal hier wohnt, der bleibt." Bei Kull gilt das seit nunmehr 62 Jahren.

Wenn die Geschichte etwas anders gelaufen wäre, dann wäre die Altenbergstraße heute ein Touristentreffpunkt. Dann gäbe es nämlich in Stuttgart neben dem Mercedes-Museum und dem Porsche-Museum vermutlich einen dritten Auto-Tempel: das Brütsch-Museum. Denn Egon Brütsch hatte in den 50er Jahren in seiner Werkstatt an der Altenbergstraße eine revolutionäre Idee. Er baute Kleinwagen mit Kunststoff-Karosse, darunter die dreirädrige "Mopetta". Kostenpunkt 750 Mark.

Die Schweizer Zeitschrift "Motor-Reporter" hielt damals große Stücke auf Brütsch: "Wäre der Publikumserfolg bei Ausstellungen ein Wertmesser für den finanziellen Erfolg, müsste der Mann schon längst Millionär sein." Tatsache aber war, dass Brütsch damals Dank einer Erbschaft bereits mehrfacher Millionär war. 1958, nach dem endgültigen Scheitern als Automobil-Konstrukteur, war er es nicht mehr. "In unserer Schlucht lagen Jahre später noch etliche kaputte Karossen dieser Kleinwagen", erinnert sich Kull. Auf Brütsch lässt er aber nichts kommen. Im Gegenteil. "Er hat mich einmal auf seinem Schoß im Rennwagen mitgenommen", sagt er und strahlt. Diese Fahrt ins Glück ist unvergesslich.