Christian Kratzke will seinen Mitarbeitern bei der AOK auf Augenhöhe begegnen Foto: Max Kovalenko

Die Hochschulen platzen aus allen Nähten, während Firmen oft händeringend nach Auszubildenden suchen. Dabei ist die Karriere auch mit einer Ausbildung möglich - wie im Fall von Christian Kratzke, Geschäftsführer, AOK-Bezirks­direktion Stuttgart-Böblingen.

Stuttgart/Böblingen - Wenn Christian Kratzke durch die AOK-Filiale in Sindelfingen läuft, begrüßt er alle Mitarbeiter, die ihm über den Weg laufen, per Handschlag. Ihm ist bewusst, dass sein Verhalten als Geschäftsführer von den Mitarbeitern genauer unter die Lupe genommen wird als das von anderen. „Da gibt es den passenden schwäbischen Spruch: Je höher das Äffle steigt, desto mehr sieht man das Ärschle“, sagt der 54-Jährige und lacht. Natürlich werde man in einer Führungsposition einsamer, fügt er ernster hinzu. Doch dass er Geschäftsführer werden wollte, stand für ihn schon seit dem ersten Tag seiner Ausbildung fest.

"Es war damals nicht leicht, einen Ausbildungsplatz zu bekommen"

Diese begann er im Jahr 1979 bei der Krankenkasse Barmer GEK in Konstanz. „Es war damals nicht leicht, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ich hatte die Wahl, Speditionskaufmann oder Sozialversicherungsfachangestellter zu werden“, erinnert er sich. Er entschied sich für die Ausbildung als Sozialversicherungsfachangestellter – einfach weil es interessanter klang. Und damit lag er richtig. Da er aus einfachen Verhältnissen kam, genoss er zunächst das gute Gefühl, eigenes Geld zu verdienen und damit eine gewisse „finanzielle Freiheit“ zu erlangen.

Doch er merkte auch, dass ihm der Umgang mit Menschen in seinem Job gut gefiel: „Anerkennung durch andere Menschen bekommt man in diesem Beruf sehr stark, da sich die Kunden bedanken, wenn man sie gut beraten hat.“ An seine Lehrjahre denkt der gebürtige Konstanzer deshalb gerne zurück. Doch der berufliche Ehrgeiz hielt sich bei ihm in dieser Zeit noch in Grenzen. Wichtig waren ihm damals vor allem sein Fußballverein und seine Freundin.

Doch als er diese im Jahr 1984 heiratete, wurde ihm klar: „Jetzt muss ich beruflich Gas geben.“ In den folgenden Jahren übernahm er bei der Barmer in Konstanz diverse Aufgaben, als Beitrags- und Leistungsprüfer, Berater im Bereich Rehabilitation und schließlich als stellvertretender Geschäftsstellenleiter.

„Je mehr Mitarbeiter ich führe, desto einfacher wird es“

Die erste eigenverantwortliche Führungsposition bekam er schließlich im Jahr 1991, als er zur AOK wechselte und Leiter des Kundencenters in Radolfzell wurde. Berufsbegleitend machte er noch den AOK-Betriebswirt, wofür auch häufig die Wochenenden geopfert werden mussten. „Meiner Frau habe ich in dieser Zeit viel abverlangt“, muss der Familienvater heute zugeben. Bereits im Jahr 1993 wechselte er als Leiter in das größere Center in Singen, wo er 20 Mitarbeiter führte.

Nun nahm seine Karriere stetig ihren Lauf: Es folgte die Beförderung zum stellvertretenden Geschäftsführer im Schwarzwald-Baar-Kreis, der Geschäftsführerposten im Landkreis Freudenstadt, anschließend für den gesamten Nordschwarzwald und schließlich seit Sommer 2013 die Geschäftsführung der Bezirksdirektion Stuttgart-Böblingen.

Die Zahl der Mitarbeiter, die er führt, nahm mit jeder Station zu. Waren es in Freudenstadt noch 140 Mitarbeiter, so waren es im Nordschwarzwald bereits 500. „Je mehr Mitarbeiter ich führe, desto einfacher wird es“, findet Kratzke. Denn so kann er Aufgaben an das mittlere Management delegieren.

Trotz der vielen Wechsel innerhalb der AOK will Kratzke in jedem Job, den er gerade ausübt, sein Bestes geben: „Ich tauche immer komplett dort ein, wo ich gerade bin.“ Seit 1993 ist er außerdem noch als nebenamtlicher Dozent und seit 2002 als Vorsitzender im Prüfungsausschuss in Südbaden für die Auszubildenden zuständig. Die Chance, die er als Auszubildender bekommen hat, möchte er nun auch jungen Menschen geben, denen er mit großem Respekt begegnet: „Die jungen Leute sind durch diese komplexe Welt viel weiter als wir früher“, findet er. Ob er als Chef sich selbst als jungen Mann eingestellt hätte, bezweifelt er sogar.

Aus bescheidenen Verhältnissen nach oben gearbeitet

Dabei zeigt seine Geschichte deutlich, dass man sich auch aus bescheidenen Verhältnissen mit einer Ausbildung als Grundlage nach oben arbeiten kann. Heute muss er sich in seinem Arbeitsalltag mit den unterschiedlichsten Themen befassen. Bei Gesprächen mit den Topmanagern dreht sich beispielsweise vieles darum, wie die Ziele der Krankenversicherung aussehen und wie sich diese in der Außenwirkung darstellen lassen. „Ich muss natürlich auch entscheiden, ob wir unser Geld sinnvoll einsetzen und ob wir überall auf dem neusten Stand sind“, sagt Kratzke.

Natürlich muss er die AOK auch selbst bei zahlreichen Veranstaltungen repräsentieren und wird häufig in Kliniken oder Firmen eingeladen. Überhaupt ist seine Arbeit geprägt von ständigen Sitzungen, in verschiedenen Ausschüssen, mit verschiedenen Politikern. Über das politische Geschehen – vor allem was die Gesundheitspolitik angeht – muss er immer auf dem neuesten Stand sein. Aber auch die Kundencenter sucht er wöchentlich auf, um sich selbst ein Bild von den Problemen und Arbeitsweisen vor Ort zu machen.

Damit die Auszubildenden in seinem Unternehmen eine Ahnung davon bekommen, was ihr Chef den ganzen Tag macht, veranstaltet Kratzke regelmäßig Azubi-Chef-Tage. Dabei begleitet ihn der Lehrling einen Tag lang. „Manche denken vorher, der Chef trinkt den ganzen Tag nur Kaffee“, sagt er mit einem Schmunzeln. Dabei hat er am Tag im Schnitt zehn bis zwölf Termine und muss sich innerhalb von Minuten wieder auf ein ganz anderes Thema einstellen. Kein Wunder, dass Kratzke im Urlaub oft verschweigt, was er beruflich macht. Denn in seiner Freizeit genießt er es, „einfach nur der Christian zu sein“ – und nicht der Chef.