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Meinungsforscher sagen beim Unabhängigkeitsreferendum in Schottland ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Der Kampf um die Stimmen wird bis zur letzten Minute geführt.

Edinburgh - Gladstone Terrace, Hausnummer 16: Rob Sproul-Cran klopft, einmal, zweimal. Geduldig wartet der 31-Jährige vor der blau gestrichenen Tür, auf dem Arm eine Liste mit Namen und Adressen, zudem Handzettel und Broschüren. Die barfüßige Erin Cadger öffnet die Tür, ihre beiden Söhne wuseln um sie herum. Rob Sproul-Cran spult sein Vorstellungssprüchlein ab, wie er es bereits seit zwei Wochen Abend für Abend Dutzende Male gemacht hat: „Hallo, ich bin Freiwilliger der Ja-Kampagne, und ich würde gerne hören, was Sie denken. Haben Sie sich schon entschieden?“

Sproul-Cran wirbt mit Hunderten anderen für die Loslösung Schottlands vom Vereinigten Königreich nach 307 Jahren. Und jede Stimme, jedes Gespräch zählt, bis die Wahllokale heute Abend um 23 Uhr deutscher Zeit schließen. Mehr als vier Millionen Schotten dürfen eine entscheidende Frage mit historischer Tragweite beantworten: Soll Schottland ein unabhängiger Staat sein? Falls sich mehr als die Hälfte für „Ja“ entscheidet, würde das Land im Frühjahr 2016 eigenständig.

„Ich habe keine Ahnung“, sagt die 36-jährige Erin Cadger. Sie sei die „verwirrteste Person überhaupt“. Damit gehört sie zu den rund 14 Prozent der Unentschlossenen, deren Votum am Ende entscheidend sein könnte. Denn nachdem die Unabhängigkeitsbefürworter in den vergangenen Wochen eine Aufholjagd hinlegten, prophezeien Meinungsforscher ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Die Schottin arbeitet für den Nationalen Gesundheitsdienst NHS. In ihrem Büro seien alle „verängstigt“, nachdem am Dienstag ein Papier für Aufregung gesorgt hat, das das Gesundheitswesen bei einer Loslösung bedroht sieht. Bislang behaupteten die Nationalisten, nur die Autonomie könne den staatlichen Dienst sichern und etwa vor einer künftigen Privatisierung retten.

Gladstone Terrace, Hausnummer 6: Im ersten Stock erscheint ein Franzose. Weil er seinen Wohnsitz in Edinburgh hat, darf er abstimmen – an der Tür. Mit einem Brötchen in der Hand versichert er dem ehrenamtlichen Wahlkampfhelfer Rob Sproul-Cran, sein Kreuz bei „Yes“ zu machen. Warum? „Es ist aufregend, etwas Neues.“ Seine Nachbarin dagegen will für „Nein“ stimmen. „Ich bin nicht überzeugt, dass wir uns die Unabhängigkeit leisten können“, sagt Jane Ridings. Die 57-Jährige wischt sich die Haare aus dem Gesicht und lächelt milde. „Mein Herz sagt Ja“, aber aus pragmatischen Gründen möchte sie an der Union festhalten.

Der Ehemann von Erin Cadger kommt nach Hause, im Treppenhaus hat sich der Duft von brutzelndem Gemüse ausgebreitet. Es ist Feierabendzeit. „Wenn wir keinen Zugang zur EU haben, verlieren wir eine ganze Industrie“, benennt der Unabhängigkeitsbefürworter seine einzige Sorge. Die eher europafreundlichen Schotten wollen auf jeden Fall Mitglied bleiben, aber noch ist jedoch unklar, ob ein reibungsloser Übergang, wie er von der Scottish National Party (SNP) versprochen wurde, gelingt.

Der schottische Regierungschef Alex Salmond, Vorsitzender der SNP, mobilisierte gestern noch einmal alle Kräfte. „Es ist der größte, uns am meisten Macht gebende Moment, den die Mehrheit von uns je erlebt“, schrieb er in einem Aufruf. Bei einem „Ja“ würden die Schotten am Freitag „am ersten Tag eines besseren Landes aufwachen“. Der frühere Londoner Schatzkanzler Alistair Darling als Führer des Unionisten-Lagers wirft den Separatisten „Wählertäuschung“ vor. Er versprach einen „schnelleren Wandel Schottlands“ durch einen Verbleib im Königreich“.

Von Kirkwall bis Glasgow, von Oban bis Aberdeen gibt es kaum ein anderes Thema mehr. Der Volksentscheid bestimmt sowohl Radio- und Fernsehsendungen als auch die Gespräche von Jugendlichen und Ruheständlern, die sich in Cafés der Altstadt von Edinburgh treffen. Diskutiert wird über Öl und erneuerbare Energien, Währungsunion und Wirtschaftsaussichten.

Während täglich Hunderte Freiwillige wie Rob Sproul-Cran ausschwärmen und versuchen, die Menschen im persönlichen Gespräch von den Vorteilen einer Unabhängigkeit zu überzeugen, hat das „Better together“-Lager (Besser gemeinsam) der Unionisten zuletzt seine berühmtesten Politiker in den nördlichen Landesteil geschickt. So appellierte Premierminister David Cameron Anfang dieser Woche an die Schotten und warnte davor, aus Enttäuschung über die aktuelle Politik Londons eine folgenschwere Entscheidung zu treffen. „Wenn Sie mich nicht mögen – ich werde nicht ewig da sein“, sagte der Konservative in Aberdeen. Es gehe nicht um eine „Trennung auf Probe“, sondern um eine „schmerzhafte Scheidung“. Und er ließ es nicht an Pathos und Emotionen missen: „Wir sind eine Familie von Nationen.“

Viele Punkte sind bis zum Abstimmungstag ungeklärt. Welche Währung wird ein autonomes Schottland verwenden? Das Pfund? Noch ist unklar, ob Rest-Britannien eine Währungsunion mit dem neuen Nachbarn eingehen würde. Welchen Teil der Staatsschulden müsste ein eigenständiger Staat übernehmen, und wie würde er auf Dauer seinen Haushalt finanzieren?

Die Unabhängigkeitsbefürworter verweisen auf die reichen Öl- und Gasressourcen in der Nordsee, die mehrheitlich auf schottischem Gebiet liegen. Die Unionisten halten dagegen, dass die Einnahmen seit 2000 kontinuierlich zurückgehen. Banken wie die Royal Bank of Scotland haben den Umzug nach London bereits beschlossen. Auch der Versicherer Standard Life könnte bald in der britischen Hauptstadt sitzen.

Wahlkampfhelfer Rob Sproul–Cran kennt die Sorgen der Menschen. Für den jungen Mann steht fest: „Das System funktioniert zwar, aber es könnte noch viel besser sein.“ Schottland sei gewillt, mehr aus den erneuerbaren Energien herauszuholen und ins Land zu investieren. Eine geschlagene halbe Stunde hat er mit der unentschlossenen Erin Cadger diskutiert. Dann, er will schon gehen, hellt sich ihr Gesicht auf. „Setzen Sie mich auf die Ja-Liste“, sagt sie plötzlich.