Ort der Bekenntnisse, Heimat für Dogmatiker, Schlachtfeld erbitterter Kämpfe: die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Foto: dpa

Die Theaterwelt blickt auf diese Stadt: An der Berliner Volksbühne und am Berliner Ensemble treten Intendanten an, deren Berufung die Gemüter zum Kochen brachte. Unter Chris Dercon und Oliver Reese ist die Zukunft der Theater offen wie noch nie.

Stuttgart - Es war zu erwarten, dass Kritiker die Berliner Volksbühne kürzlich zum Theater des Jahres erkoren: Über kein Theater wurde zuletzt mehr geschrieben, gestritten und geschimpft, aber auch gelobhudelt und gejammert als über die Volksbühne. Das hängt natürlich mit dem umstrittenen Museumsmann Chris Dercon zusammen, der nach 25 Castorf-Jahren das Haus jetzt übernommen hat. Und womöglich wären der Volksbühne ohne Dercon vor der Nase in Castorfs Abschiedssaison nicht so viele schöne Inszenierungen gelungen. Vielleicht waren Arbeiten wie Castorfs „Faust“ oder René Polleschs Volksbühnen-Diskurs-Reihe außerdem tatsächlich ästhetische High-End-Produkte, vielleicht aber hat das dauerklatschende Publikum in einer Art vorauseilender Vergreisung auch die Heiligsprechung des castorfianischen Kosmos betrieben. Weil alle wussten, dass dieser Kosmos auf Geheiß einer unergründlichen Kulturpolitik aufhören soll, kam er allen als unschätzbar, weil unwiederbringlich vor.

Das Abschiednehmen gehört ja zu den schwierigsten Künsten überhaupt, von der Volksbühne besonders. Schließlich war sie seit Castorfs Amtsantritt 1992 stets ein Bekenntnisfall: Entweder man warf sich ihr liebend in die Arme, oder aber man zeigte ihr kopfschüttelnd die kalte Schulter. Liebe macht allerdings blind, Hass auch. Die heftigen Auseinandersetzungen für und wider Dercon stehen auch für den hohen Emotionsgehalt dieser Volksbühnendebatte: Bekenntnisse gehen in Fakten nicht auf, sie haben mit Glauben, Gefühlen, Erinnerungen zu tun. Alle Volksbühnenjünger haben zwar eine eigene, jeweils andere Volksbühne in ihrem Gedächtnishaushalt eingerichtet, aber alle umhegen sie mit der eifersüchtigen Liebe derer, die sich von ihr sinnstiftende Kräfte versprachen.

Das Peymann-Haus galt seit Jahren als hinterm Mond

Andererseits: Auch am Berliner Ensemble endet nach etwas längeren 18 Jahren eine Ära. Und was immer man gegen Claus Peymann einwenden mag, Mangel an Unterhaltungswert und Streitlust wird man seiner Regentschaft nicht vorwerfen können. Der Unterschied ist nur: Das Peymann-BE galt unter Profizuschauern seit Jahren als hinterm Mond, nicht jedoch beim treuen Publikum, das jetzt Trauer trägt, weil dieses Haus ebenso unwiederbringlich ins Gestern gesunken ist.

Auf den ersten Blick scheint aber der neue, stolze Hausherr am BE, Oliver Reese, leichtes Spiel zu haben. Er kann ein entschieden „zeitgenössisches Programm“ versprechen, das sich „den Themen unserer komplexen, konfliktgeladenen und zerrissenen Welt“ stellt, und dabei auf einvernehmliches Nicken der Theaterstadt rechnen. Zeitgenössisches Theater ist immer schön, und Reeses Programm verspricht, was derzeit bezugsgruppenspezifisch als zeitgenössisch gilt: Der weithin bekannte Regisseur Antú Romero Nunes darf zur Eröffnung am 21. September Camus’ machtkritisches Stück „Caligula“ inszenieren, danach legt sich Michael Thalheimer am Brecht-Haus den Brecht-Klassiker „Der kaukasische Kreidekreis“ zurecht, Reese selbst gönnt sich eine Bearbeitung der „Blechtrommel“. Dazu einige jüngere Regisseure, neue Stücke, ein bisschen was Genreübegreifendes plus ein vielversprechendes Ensemble: Das kann eigentlich nicht schiefgehen. Es kann aber auch sein, dass gerade dieser souverän abgehängte „Neuanfang“ nicht verfängt, weil das Business as usual für die zerrissene Welt nicht mehr taugt.

An der Volksbühne wird das Ensemble- und Repertoiretheater jetzt abgeschafft

Chris Dercons Volksbühne dagegen hat ins jetzt schon berühmte rote Programmbuch den Wahlspruch „I want to be free“ gedruckt. Man ist hier so frei, das Ensemble- und Repertoiretheater de facto abzuschaffen und das Theater als eine „Plattform“ für alles irgendwie Kunstige herzurichten. Auf dem Tempelhofer Feld geht es am Sonntag mit einem Tanzfest für die Bürger los, am folgenden Donnerstag ebendort mit professionellem Tanz von Boris Charmatz und Ende September mit einer „Iphigenie“ von Mohammad Al Attar weiter. Im Großen Haus im November setzt dann ein Beckett-Abend von Tino Sehgal die Eröffnungs-Events fort. In den Neunzigern habe Sehgal übrigens just an der Volksbühne verstanden, dass „in der Kunst alles möglich ist“. Die neue Volksbühne will jetzt beweisen, dass Stadttheater als „Dachmarke“ für alles Mögliche machbar ist.

So oder so wird alles an beiden Häusern unter dem Vorzeichen der vergangenen Debatten stehen. Zu lernen ist aus diesen vielleicht dies: Sie haben der Stadt Berlin wie dem gesamten Theaterbetrieb einen Bewusstwerdungsschock verpasst. Die Volksbühne unter Castorf war ja immer auch bestens als Projektionsfläche für die verschiedensten Sehnsüchte nach geistiger und ästhetischer Heimat geeignet. Ein Haus, das so widersprüchlich, schräg und schrill war, wie sich Berlin in den Neunzigern selbst verstand: Das Kaputte als Heilsversprechen. Jetzt ist Berlin zwar noch immer arm, aber nicht mehr kaputt, sondern schick und teuer. Die Selbsterzählung der Stadt geht auf Weltoffenheit, auf ein Hotspot-Dasein für Kreative und Kulturenvielfalt – und zwar so utopie- und anspruchslos, dass die Zukunft ein Grund zum Fürchten, nicht zum Hoffen ist. Berlin ist bloße Marke, ein produktorientierter Sammelplatz für lauter Minimarken, darunter auch die Theater.

Berliner Kulturpolitik mit Sog zur Substanzlosigkeit

Die Kulturpolitik von Tim Renner (der Dercon berufen hat) bis zum jetzigen Kultursenator Klaus Lederer (der Dercon am liebsten loswerden würde) hat sich diesem Sog zur Substanzlosigkeit nahezu völlig ergeben: Sie betreibt ihr Geschäft als Marketingmanagement – hier das „Experiment des Neuen“ (Volksbühne), dort das gesicherte Stadttheatertum (BE). Wenn etwas an den vergangenen Debatten zuversichtlich stimmt, dann die Tatsache, dass sich die Stadtgesellschaft eine der Selbstherrlichkeit und Marktlogik verpflichtete Politik so nicht bieten lässt, auch wenn ihr außer Petitionen zu unterschreiben aktuell wenig zu tun bleibt.

Dennoch, im Grunde ist das für die Theaterstadt Berlin eine wunderbare Situation: Alle Versuche, das Theaterschaffen der Gegenwart zu schablonisieren, dürfen als rundweg gescheitert betrachtet werden. Weder lassen sich Performance und Schauspiel noch das Kuratoren- und Intendantenwesen gegeneinander ausspielen. Was zeitgenössisches Stadt-Theater überhaupt sein soll, ist erst noch zu ermitteln – das unerwartete Scheitern oder Gelingen ist so wahrscheinlich wie nie zuvor.

Im übrigen gibt es auch noch andere Häuser in Berlin, die nach eigenen Wegen suchen. Patentrezepte werden sich jedenfalls nicht finden lassen, so viel lässt sich aus den Debatten auch mitnehmen. Der Rest ist Kunst, die sich gottlob weder vermessen noch planen oder kuratieren lässt. Es ist der entscheidende, wichtigste Rest.